Nach der Brexit-Erschütterung: Das müssen Sie wissen

Wann ist Grossbritannien endgültig aus der EU draussen? Kommt Europa wieder auf die Beine? Interessiert sich jetzt noch irgendjemand für die Schweiz? Reaktionen und Analysen zum Brexit.

Volle Fahrt ins Ungewisse: Grossbritannien verlässt die EU und richtet dabei gehörig Schaden an.

(Bild: Keystone)

Wann ist Grossbritannien endgültig aus der EU draussen? Kommt Europa wieder auf die Beine? Interessiert sich jetzt noch irgendjemand für die Schweiz? Reaktionen und Analysen zum Brexit.

Die Vernunft werde schon siegen, Unentschlossene sich für den Verbleib entscheiden – der zaghafte Optimismus vor dem Referendum über den EU-Austritt Grossbritanniens war fehl am Platz:

  • Seit Freitagmorgen steht fest: 51,9 Prozent der Briten votieren für den Austritt aus der EU.
  • Für den Austritt stimmten Mehrheiten in England und Wales, Schotten und Nordiren stimmten für den Verbleib.
  • Premierminister David Cameron hat umgehend seinen Rücktritt im Oktober angekündigt. 
  • Die Aktienkurse weltweit stürzen ab: Der SMI verliert 6 Prozent, Dax und Nikkei 8 Prozent, der britische FTSE 6 Prozent. Vor allem Finanztitel geraten unter Druck.
  • Anleger flüchten in den Schweizer Franken, der zum Euro unter 1,07 Franken fällt. Die Nationalbank tätigt Stützkäufe.

Nach dem Ja zum Austritt überschlagen sich die Ereignisse, gewichtige Fragen stehen im Raum. Wir versuchen an dieser Stelle, einige zu klären.

Reaktionen aus der Schweiz und aller Welt

Der Schweizer Bundespräsident Johann Schneider-Ammann kommentiert den Brexit mit folgenden Worten:

«Der Bundesrat nimmt das Resultat der Abstimmung zur Kenntnis. Es handelt sich um einen souveränen Entscheid der britischen Bürgerinnen und Bürger – der Bundesrat bewertet die britische Entscheidungsfindung nicht.»

SVP-Rechtsaussen Lukas Reimann feiert den Entscheid. Ein Sieg für «echte Menschen» sei der Brexit, was auch immer das heissen mag:

Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen ändert ihr Profilbild auf Twitter kurzerhand in den «Union Jack»:

Der niederländische Rechtspopulist Gert Wilders stösst ins selbe Horn:

Der italienische Premierminister Matteo Renzi fordert eine Veränderung der EU, sie müsse menschlicher werden:

Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz befürchtet entsprechend, das weitere Länder folgen könnten:

«Ein Dominoeffekt auf andere Länder ist nicht auszuschließen.»

Der deutsche Europapolitiker Elmar Brok (CDU) schiebt die Schuld Englands Premier Cameron zu – und er kündigt Härte an:

«Man muss sich nicht wundern, wenn David Cameron zehn Jahre lang erklärt, wie schlecht Europa ist. Das war eine Fehlentscheidung, für die bitter bezahlt werden muss.» 

Mit diesen Worten verabschiedet sich David Cameron

So sieht der Weg aus, bis Grossbritannien endgültig draussen ist

Bereits am Sonntag trifft sich die EU-Kommission, um die Formalitäten des Brexit zu regeln und danach die Öffentlichkeit zu informieren. Der Austritt ist nach Artikel 50 des EU-Vertrags geregelt. Um diesen anzurufen, braucht es allerdings noch einen Beschluss des britischen Parlaments. Das Referendum selbst hat keinen rechtlich bindenden Charakter.

Am EU-Gipfel, der am Dienstag beginnt, diskutieren die Mitgliedstaaten dann, wie die finanziellen Lasten neu verteilt werden – Grossbritannien war Netto-Zahler – und wie die EU-Integration verstärkt werden kann.

«Spiegel online» hat einen Zeitplan aufgestellt, nach dem die Abwicklung der Mitgliedschaft ablaufen dürfte. Bis in zwei Jahren muss der Austritt vollzogen sein:

«Die Auflösung aller vertraglichen Verbindungen zwischen Brüssel und London wird etwa zwei Jahre dauern. Dann müssen die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien neu verhandelt werden. Dem Gesamtergebnis müssen nach den Worten von EU-Ratspräsident Donald Tusk alle 27 Mitgliedsländer und das EU-Parlament zustimmen. Dieser Prozess dürfte mindestens fünf weitere Jahre in Anspruch nehmen.»

» «Spiegel online»: So läuft Grossbritanniens EU-Austritt

Zerbricht jetzt der Staatenbund Grossbritannien?

Das Risiko, dass sich Schotten und Nordiren ablösen, ist mit dem Referendumsentscheid gestiegen. Warum, zeigt die Aufbereitung der Abstimmung als Karte:

 

In Nordirland fordert die irisch-nationalistische Partei Sinn Fein jetzt den Zusammenschluss mit dem EU-Land Irland. Nordirland stimmte mit 56 Prozent für den Verbleib Grossbritanniens in der EU. Noch deutlicher fällt das Ja in Schottland aus, wo 62 Prozent der Wählenden Ja stimmten. 

In Schottland werden nun Stimmen laut, die ein zweites Unabhängigkeitsreferendum fordern. «Harry Potter»-Autorin J.K. Rowling gibt dafür dem scheidenden Premier Cameron die Schuld.

Der «Spectator» aus London glaubt, dass ein zweites Referendum kommen wird, da sämtliche Wahlkreise Schottlands für den Verbleib gestimmt haben:

«And that is the crucial point. The whole of Scotland voted Remain: the whole of Scotland without exception, including those areas, like the Western Isles, which voted to leave the EEC last time round. That sends a very powerful message.»

Doch gespalten ist das Land nicht nur geografisch. Diese Umfrage vom Wahltag zeigt deutliche Mehrheiten unter jungen Wählern für den Verbleib sowie eine ausgeprägte EU-Skepsis unter Rentnern. Unterschiede im Abstimmungsverhalten zeigen sich auch zwischen den sozialen Schichten. Die obere Mittelklasse war in grosser Mehrheit für die EU-Mitgliedschaft («AB»), Arbeiterklasse und Sozialhilfeempfänger («DE») waren klar dagegen.

Was bedeutet der Brexit für die Schweiz?

Politisch

Die Kommentatoren und Politiker sind sich weitgehend einig, jubelnde SVP’ler mal ausgenommen. Die Verhandlungen mit der EU zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative haben sich mit dem Ja zum britischen Austritt deutlich verschlechtert. 

«Die Lösungssuche mit der EU ist nicht einfacher geworden», sagt etwa Johann Schneider-Ammann. Als Schweizer müsse man in Brüssel jetzt hintenanstehen. 

Auch der Basler Volkswirtschaftsdirektor Christoph Brutschin ist pessimistisch, wie er auf Anfrage erklärt: «Schweizer Anliegen sind auf der Brüsseler Agenda weit nach hinten gerückt. Unsere Verhandlungsposition hat sich ohne Zweifel verschlechtert.»

«Die EU wird während den zweijährigen Austrittsverhandlungen keine substanziellen Konzessionen an die Schweiz machen können», glaubt auch die «NZZ».

Wirtschaftlich

Vor allem die Schweizer Finanzbranche wurde vom Brexit hart getroffen. Die Kurse von UBS und CS gaben um mehr als 10 Prozent nach. Der «Tages-Anzeiger» hält den Schaden bereits für angerichtet, auch wenn erst die kommenden Monate zeigen, wie es weiter geht:

«Die beste Strategie in einer solchen Ausgangslage ist, vorerst zuzuwarten. Aber das allein hat wirtschaftliche Folgen. Geringere Investitionen schwächen die Wirtschaft über eine geringere Nachfrage – aber auch langfristig, weil damit das Produktionspotenzial Schaden nimmt.»

» «Tages-Anzeiger»: Ein Schock für die Schweizer Wirtschaft

Der Schweizer Franken hat sich bereits massiv verteuert seit Bekanntgabe des Abstimmungsresultats. Er fiel zum Euro zeitweise auf 1,06. Doch auch die tiefen Zinsen, die nun nicht steigen dürften, haben Konsequenzen, analysiert die «Handelszeitung»:

«Die Verzögerungen bedeuten, dass Negativzinsen in der Schweiz noch länger zum Alltag gehören werden. Dies bedeutet Einbussen für Sparer und Pensionskassen und für all jene Unternehmen, die aufgrund ihres Geschäfts hohe Bargeldbestände halten müssen.»

» «Handelszeitung»: Diese fünf Folgen hat Brexit für die Schweiz

Was macht der Brexit mit Europa?

Die «Times» befürchtet eine «Atomisierung Europas», da in wichtigen Ländern, wie Frankreich, Italien und Deutschland Wahlen anstehen. Brexit könnte bloss der Beginn des Zerfalls der Europäischen Union sein:

«The dream of a united Europe is over. Born in the ruins of a continent torn apart by war seven decades ago. Brexit will strike terror into the hearts of European governments and force a dramatic rethink of the organisation which aimed to bind nation states tightly together in the name of peace and prosperity.»

» The Times: Fear of contagion is now very real threat

Die «Süddeutsche Zeitung» betitelt den Schaden für die EU als «historische Katastrophe». Ohne Grossbritannien als Gegengewicht zum dominanten Deutschland werde eine Weiterentwicklung nicht möglich sein:

«Wer jetzt von großen europäischen Visionen träumt und die Chance auf den lange ersehnten Integrationsschub sieht, der sollte weiter schlafen. Europa ist erschüttert, es wird die Kraft zum Weiterwachsen erst einmal nicht aufbringen.»

» «Süddeutsche Zeitung»: Voller Angst in die historische Katastrophe

Nächster Artikel