Nach ihrem Stichentscheid gegen die Pädophilen-Initiative macht Nationalratspräsidentin Maya Graf Bekanntschaft mit der Schattenseite ihres Amtes. Auf Facebook wird sie massiv angegriffen, die SVP wirft ihr vor, Pädokriminelle zu schützen, selbst ihre Kinder müssen sich einiges anhören.
Es war eine wirre Abstimmung eines wirren Parlaments. Bei der CVP, die die Initiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» dem Stimmvolk eigentlich zur Annahme empfehlen wollte, änderten vier Parlamentarier (darunter Elisabeth Schneider-Schneiter, BL und Markus Lehmann, BS) im letzten Moment ihre Meinung und enthielten sich ihrer Stimme. Sie habe bis zuletzt mit sich gerungen, sagte Schneider-Schneiter später der NZZ: «Als Juristin hat mich aber letztlich mein rechtsstaatliches Gewissen davor zurückgehalten, die Initiative zur Annahme zu empfehlen.»
Bei der FDP, die eigentlich gegen die Initiative ist, stimmten mindestens vier Parlamentarier falsch (das geschieht häufiger, als man sich dies vorstellen möchte) und schliesslich schwänzten mit CVP-Präsident Christophe Darbellay und SVP-Nationalrat Oskar Freysinger ausgerechnet zwei Politiker die Abstimmung, die im Initiativ-Komitee sitzen. «Shit happens», sagte Freysinger später im «Sonntagsblick». (online nicht verfügbar)
Ein Zufallsentscheid
Ja, «Shit happens». Das Resultat nach dieser Zufallsabstimmung lautete 88 Stimmen für die Initiative, 88 dagegen. 14 Parlamentarierinnen und Parlamentarier hatten sich wie Elisabeth Scheider-Schneiter und Markus Lehmann der Stimme enthalten und damit auch einem allfälligen Volkszorn entzogen. Es war nun an Nationalratspräsidentin Maya Graf (Grüne). Sie musste den Stichentscheid fällen: Graf stimmte – wie es Usus ist bei Nationalratspräsidenten – mit der Mehrheit der vorberatenden Kommission und des Bundesrats und damit gegen die Initiative. Ein Entscheid, hinter dem sie auch persönlich steht: «Die Initiative mit ihrem lebenslangen Berufsverbot ist rechtsstaatlich bedenklich. Ausserdem finden die meisten Übergriffe im privaten Umfeld statt – da nützt der indirekte Gegenvorschlag mit seinem Rayonverbot mehr und ist auch schneller umgesetzt.»
Das ist auch die Haltung von Justizministerin Simonetta Sommaruga. Vor der entscheidenden Abstimmung hatte sie das Parlament eindringlich um eine Ablehnung der Initiative gebeten: «Ich bitte Sie, hier die Mehrheit Ihrer Kommission zu unterstützen – nicht weil sie nichts tun will, sondern weil sie Kinder besser vor sexueller Gewalt schützen kann. Das Projekt liegt auf dem Tisch, Sie können es verabschieden. Damit haben wir echt etwas für die Kinder in unserem Land getan.» Das «Projekt», der indirekte Gegenvorschlag, bewahre im Gegensatz zur Initiative das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Und dieses Prinzip, so sagte es Sommaruga vor dem Nationalrat, sei nicht irgendetwas Abstraktes, «sondern die Grundlage jeglichen staatlichen Handelns».
Dann ging es los
Diese Worte verhallten ungehört, was haften blieb war einzig die Schlagzeile: Die Nationalratspräsidentin versenkt die Pädophilen-Initiative. Und damit ging es los. Über fünfzig Mails mit überwiegend negativem Tonfall erhielt Graf, ihre Kinder wurden via Facebook für das Verhalten der Mutter angeraunzt, auf Radio 24 warf ihr SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli vor, aktiv Pädokriminelle zu schützen und stellte sie in die Nähe des unaufgearbeiteten Pädophilen-Skandals der deutschen Grünen. «Ausgerechnet die SVP», sagt Graf dazu, «jene Partei, die sich vor zehn Jahren aktiv dagegen gewehrt hat, dass Vergewaltigungen innerhalb einer Ehe strafbar werden.»
Der Sissacher Landrat Marco Born (FDP) ging noch einen Schritt weiter: Auf Facebook veröffentlichte er einen breit geteilten Brief an Maya Graf. Dieser gipfelte in folgenden Schlussworten: «Ich hoffe, Du musst nie den Eltern eines missbrauchten Kindes in die Augen sehen und ihnen beichten, dass Du dieses unfassbare Leid mit Deinem Stichentscheid hättest verhindern können!» Die Kommentatoren unter dem Brief nahmen den Ton von Born auf und forderten, dass auf Grafs Bauernhof ein paar Pädokriminelle zur Therapie geschickt würden; verwünschten das «Pack» und «Gesindel» in Bern und prophezeiten, dass man es denen an der Urne dann schon zeigen würde.
Kein Raum für Nuancen
Graf hat in der Zwischenzeit auf Born reagiert, ebenfalls mit einem öffentlichen Brief. Es sei ja einigermassen seltsam, wenn man ausgerechnet von einem Freisinnigen beschimpft werde, «wenn seine Partei die gleiche Meinung vertritt wie ich». Born hat den Brief auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht; er wurde, erwartungsgemäss, etwas weniger oft geteilt als das ursprüngliche Pamphlet des FDP-Landrats. Dafür wird sich FDP-Fraktionschefin Gabi Huber noch bei Marco Born melden und ihm die Sachlage schildern (und ihn wohl auch für den offenen Brief rügen): «Es gehört sich nicht, jemanden so anzugreifen.» Gegenüber der TagesWoche sagt Huber, dass Sie für den Fall eines anderen Entscheids (für die Initiative) im Parlament einen Rückkommensantrag gestellt hätte. Die Verwirrung in ihrer Fraktion sei entstanden, weil man über den Antrag der Kommission abstimmen musste. Die hatte die Initiative zur Ablehnung empfohlen; ein Ja bedeutete also Ablehnung der Initiative, ein Nein Annahme der Initiative – genau umgekehrt wie sonst üblich.
Die Episode nach dem Stichentscheid ist nur ein Vorgeschmack auf den noch folgenden Abstimmungskampf. Wenn es um ein Thema wie Pädophilie geht, sind staatsrechtliche Nuancen nicht mehr von Belang; sie gehen im allgemeinen Getöse unter. Ähnlich wie sie es bei der Abstimmung über die Ausschaffung krimineller Ausländer oder beim Minarett-Verbot taten. Die Chance ist gross, dass die Pädophilen-Initiative an der Urne angenommen wird – egal, ob das staatsrechtlich problematisch ist. Egal, ob es bereits einen ausgearbeiteten Gesetzesvorschlag gibt, der weiter geht als die Initiative. Und egal, ob das Parlament mit Maya Grafs Stichentscheid die Ablehnung der Vorlage empfohlen hat.
Die Initiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» will ein lebenslängliches Tätigkeitsverbot für die Arbeit mit Minderjährigen für all jene Personen, die wegen sexueller Straftaten mit Kindern verurteilt wurden. Die Initiative betrifft alle Straftäter gleichermassen: So soll beispielsweise ein 19-Jähriger, der mit einer 14-Jährigen eine Beziehung unterhält, nie Lehrer werden dürfen. Ein direkter Gegenvorschlag des Ständerats, der den Automatismus nur bei Delikten von einer «gewissen Schwere» beibehielt, die Dauer des Tätigkeitsverbots auf mindestens zehn Jahre festlegte und den Richtern die Möglichkeit einräumte, die Dauer der Strafe je nach Schwere des Delikts zu variieren, hatte im Nationalrat keine Chance. Die Grosse Kammer setzt stattdessen wie der Bundesrat auf den indirekten Gegenvorschlag – ein gegenüber der Initiative abgeschwächtes Tätigkeitsverbot (im Sinne des Vorschlags des Ständerats) sowie ein zusätzliches Kontakt- und Rayonverbot. Diese Änderungen könnten vom Parlament beschlossen werden, noch bevor die Volksinitiative zur Abstimmung kommt.