2018 sei in der Aussenpolitik das Jahr der Entscheidung, hiess es, kaum war der Silvester vorbei. Das kommt uns vertraut vor, wurden doch schon 2017, 2016, 2015 als Jahre der Entscheidung bezeichnet. Weil Worte oft dazu dienen, das Inexistente wenigstens verbal existieren zu lassen, darf man vermuten, dass es Jahre des Aufschubs und der Nichtentscheidungen waren – und dass es 2018 kaum anders sein wird.
Es bleibt der Trost: Es wird aller Voraussicht nach auch ein Jahr 2019 geben. Dann aber wird es sicher Stimmen geben, die mit Blick auf die anstehenden Herbstwahlen in helvetischer Manier mahnen, man soll klugerweise noch nichts entscheiden und erst nach dem Urnenverdikt allfällige weitere Schritte wagen. «Europa» war noch nie ein positiv besetztes Wahlkampfthema.
Ist von Aussenpolitik die Rede, assoziiert man automatisch Europapolitik und nicht etwa die Erfahrungen im Freihandel mit China oder die schweizerische Haltung im angestrebten Verbot von Atomwaffen, das immerhin bereits von 122 Staaten angenommen worden ist. Die Schweiz hat sich da in dieser Sache noch nicht zu einer Stellungnahme durchgerungen; sie verhält sich wenig überraschend – neutral.
Obwohl die Schweiz von vielem, wie eben der Frage der militärischen Nuklearnutzung, indirekt betroffen ist, kann sie dieses Viele vermeintlicherweise von aussen und aus der Ferne betrachten. In der Europapolitik ist sie hingegen höchst direkt betroffen, da steckt sie so tief drin, dass sie sozusagen mit sich selber verhandeln muss.
Das Blöde an der Europapolitik ist, dass sich Wirtschaftliches und Politisches immer schwerer auseinanderhalten lassen.
Die bisherige Formel der Europapolitik zielte darauf ab: Dabei sein, ohne dabei zu sein. Das ist verständlich, wenn auch nur beschränkt möglich. Man partizipiert, wo es wirtschaftliche Vorteile bringt. Man bleibt draussen, wo eine Partizipation unerwünscht erscheint, weil es mit politischen Kosten verbunden ist. Das Blöde ist nur, dass sich Wirtschaftliches und Politisches immer schwerer auseinanderhalten lassen.
Fast nur von der Europapolitik war letzthin auch im Albisgüetli die Rede. Was Hausherr Blocher da von sich gab, muss nicht rekapituliert werden, denn das ist längst bekannt. Mehr könnte interessieren, was der sich selber als «Neo-Bundesrat» bezeichnende erste Diplomat der Schweizerischen Eidgenossenschaft in der «Höhle des Löwen» für eine Haltung eingenommen hat.
Ignazio Cassis präsentierte sich im positiven Sinn als Neustarter und streute mit seiner Reset-Parole den Bürgern und Bürgerinnen erneut Sand in die Augen. Neues kann er nur in der sprachlichen Einkleidung bieten: statt von einem Rahmenabkommen redet er von einem Marktzugangsabkommen.
Vor einem Jahr durfte die gleiche Sache noch Konsolidierungsabkommen heissen. Und EU-Kommissionspräsident Juncker parlierte bei seinem Berner Auftritt im November 2017 von einem Freundschaftsabkommen. Man könnte auch schlicht von Bilateralen III sprechen.
Das Verhältnis zur EU sollte stärker von gemeinsamen Interessen bestimmt sein als von einer Dealer-Mentalität.
Auffallend ist, dass Bundesrat Cassis keine eigene Sprache hat, das heisst seine Sprache die Sprache der anderen ist. Wie viele andere auch übernimmt er den Trump’schen Schlüsselbegriff, wenn er sagt, es gehe im Verhältnis zur EU um einen «Deal». Das SVP-Volk bediente er mit Begriffen wie «Kolonialvertrag» oder «fremden Richtern», ohne aber (im Sinne eines Deals) im Gegenzug ein wenig Anerkennung für seine Anbiederung zu ernten.
Würdigen kann man Cassis’ Hinweis, dass die EU ihrerseits das Europarecht nicht «fremden», etwa schweizerischen Richtern überlassen möchte. Das wurde im Saal jedoch mit Murren und Buhrufen quittiert. Verständnis will man nur für sich reklamieren und nicht für andere aufbringen.
Das Verhältnis zur EU sollte stärker von bestehenden gemeinsamen Interessen bestimmt sein als von einer Dealer-Mentalität, die bloss Eigeninteressen verrechnen will. Doch Cassis versuchte beliebt zu machen, dass man für ein «gutes Stück Kuchen» – vielleicht – eine «kleine Kröte» schlucken müsse. Also doch ein Deal. Zum Kuchen würde gehören: ausser der Beibehaltung der bisherigen Vorteile endlich auch einen Anschluss an den europäischen Strommarkt sowie ein Dienstleistungsabkommen.
Wichtiger als die Richter ist das Recht. Die Abwehr im Bundesbrief von 1291 galt vor allem «fremdem Recht».
Und die Kröte? Die war früher grösser, als die EU die Anwendung der bilateral mit der Schweiz getroffenen Regelungen einzig dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Beurteilung überlassen wollte. Seit ein paar Tagen zeichnet sich nun eine klassische Schiedsgerichtslösung ab, in der beide Seiten je einen Richter stellen und man sich auf einen mittleren, gemeinsam bestimmten Schiedsrichter einigt, es also zum Teil «fremde Richter» gäbe.
Wichtiger aber als die Richter ist das Recht. Die Abwehr im Bundesbrief von 1291 galt vor allem «fremdem Recht». Wenn sich die Schweiz auf einen Vertrag mit einem nichtschweizerischen Partner einlässt, werden die Vereinbarungen zu gemeinsamem Recht, das im Streitfall auch von gemeinsamen Richtern ausgelegt wird.
Neben Auslegung und Anwendung bisherigen Rechts geht es in einem Rahmenabkommen um die Frage, wie dieses Recht bei Bedarf fortlaufend aufdatiert werden kann. Benötigt wird nämlich eine über die statische Fixierung hinausgehende und der Dynamik der Entwicklung Rechnung tragende Lösung. Das ist freilich, was fundamentalistische Souveränitätsanhänger als «schleichenden EU-Beitritt» bezeichnen.
Teilhabe für Einkommensschwache
Von einem institutionellen Rahmenabkommen ist bereits seit zehn (!) Jahren die Rede. Und verhandelt wird nun bereits im vierten Jahr. Die Verhandlungspunkte mögen sehr technisch erscheinen, sie haben aber, wenn es in der Praxis unterschiedliche Auslegungen gibt, auch eine politische Bedeutung und sollten darum von den Bürgern und Bürgerinnen begriffen werden.
Worum geht es beim Rahmenabkommen? Solide und verständlich präsentierte Information bietet das «Lexikon», das von Christa Tobler, Professorin am Basler Europainstitut, im Internet angeboten wird.
Cassis sieht zu Recht einen Zusammenhang zwischen dem Zugang zum EU-Markt und dem schweizerischen Wohlstand. Wenn er aber ebenfalls zutreffend einen engen Zusammenhang zwischen Aussen- und Innenpolitik sieht, müsste er auch besorgt sein, dass die einkommensschwache Bevölkerung angemessen am inneren Wirtschaftsgewinn teilhat. Doch dieser Aspekt wird in der aktuellen Debatte nicht thematisiert.
Eine für schweizerisches Denken nicht überraschende Haltung will im Zuwarten einen Wert an sich sehen.
Die ersten Reaktionen in der Schweiz: nicht total ablehnend (was schon positiv ist), aber auch – wiederum auf helvetische Weise – nicht auf schnelle Realisierung bedacht. Man will sich Zeit nehmen, sich nicht unter Druck setzen lassen und erzeugt paradoxerweise mit dem Zuwarten selber den Druck, dem man nicht ausgesetzt sein will. Dabei wird von nicht zwingenden Eigenschaftspaaren ausgegangen: Statt schnell ein schlechtes möchte man lieber langsam ein gutes Abkommen. Dass eine Einigung auch schneller und besser oder langsamer und zugleich schlechter sein kann, ist in diesem Verständnis nicht vorgesehen.
Eine für schweizerisches Denken nicht überraschende Haltung will im Zuwarten einen Wert an sich sehen. Die alle Möglichkeiten offen lassende Haltung neigt dazu, das Interesse der Gegenseite an der Schweiz entgegenkommenden Lösungen zu überschätzen.
Seit einem Jahr gibt es ein zusätzliches Argument fürs Abwarten – und «Tee trinken», was eine Redewendung ist, die sich auf Kräutertee und den Genesungsprozess von Kranken bezieht. Fürs Ab- und Zuwarten sind diejenigen, die hoffen, dass die EU im Rahmen der Brexit-Verhandlungen gegenüber dem gewichtigen Grossbritannien Konzessionen machen muss, die von der weniger gewichtigen Schweiz dann ebenfalls reklamiert werden könnten.
Eine bewährte Wahlkampfmethode
Jede Zeit ist im Hinblick auf das Folgende eine entscheidende. Im eben begonnen Jahr will die SVP mit ihrer «Begrenzungsinitiative» das 2000 mit einem Volksentscheid gutgeheissene Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU aufheben. Dass damit sechs weitere bilaterale Abkommen ebenfalls hinfällig würden, wird in der bekannten nebulösen Manier entweder als unzutreffend oder unwichtig eingestuft.
Sogleich gestartete Umfragen zeigen, dass eine solche Initiative im Moment keine Chancen hätte: 55 Prozent halten, gemäss Tamedia-Publikationen, an der Personenfreizügigkeit fest. Bis in zwei bis drei Jahren darüber abgestimmt wird, kann sich aber noch einiges ändern.
Der Hauptzweck eines solchen Volksbegehrens liegt aber gar nicht im Erringen einer zustimmenden Mehrheit. Viel wichtiger mit Blick auf das Wahljahr 2019 ist, dass sich die SVP als die wahre Verteidigerin schweizerischer Interessen präsentieren kann. Auch das wirkt vertraut: Mit dieser Methode ist schon 2007, 2011 und 2015 Wahlkampf betrieben worden.