Innerhalb der EU sind die Grenzen für Waren, Kapital, Dienstleistungen und auch für Menschen offen. Doch nach dem Ja zum Brexit wird der freie Personenverkehr wieder vermehrt infrage gestellt.
Wäre Grossbritannien nicht der Personenfreizügigkeit ausgesetzt gewesen, es hätte nicht für eine Brexit-Mehrheit gereicht. Trotzdem liegen die Ursachen dieses Exits zum grösseren Teil andernorts: bei der globalisierungsbedingten Umstrukturierung der Wirtschaft, bei der Unfähigkeit der Regierung Cameron, bei der von Anfang an schwachen Übernahme der Europaidee durch die Briten.
Zudem war es ausgerechnet Grossbritannien, das bei der Osterweiterung von 2004 vom abfedernden Übergangsregime der Personenfreizügigkeit nichts wissen wollte. Dies mit selbst zu verantwortenden Folgen: Bereits 2011 war Polnisch die am zweithäufigsten gesprochene Sprache in England und Wales, und die Zahl der im UK arbeitenden Polen war auf 546’000 gestiegen.
Personenfreizügigkeit ist zunächst eine innerstaatliche Regelung. Sie ermöglicht etwa in der Schweiz die freie Mobilität, also beispielsweise zwischen Jurassiern und Zürchern. Innerstaatlich ist Personenfreizügigkeit derart selbstverständlich, dass wir sie im Bedarfsfall einfach beanspruchen, ohne sie als solche wahrzunehmen. Man muss einfach die «Papiere» hinterlegen, damit der Staat weiss, wo seine Bürger und Bürgerinnen stecken.
Der Pferdefuss der Personenfreizügigkeit
Die Europäische Gemeinschaft ist selber kein Staat. Unter ihren Mitgliedstaaten führte sie im Rahmen des 1993 in Kraft getretenen Binnenmarktprogramms (Maastricht) dennoch die Mobilitätsfreiheit für ihre Bürger und Bürgerinnen ein, als wären alle Angehörige ein- und desselben Staates.
Der Pferdefuss der Personenfreizügigkeit: Die Sozialpolitik blieb weitgehend in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Die Inanspruchnahme der Mobilitätsfreiheit verlief nicht nur mit Blick auf vorhandene Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch nach der Attraktivität der unterschiedlichen Sozialsysteme.
Zudem zeigte sich eine weitere, offenbar wenig bedachte Realität: Viele Arbeitskräfte sind keine Einzelwesen. Sie haben familiäre Bindungen, die entweder den Familiennachzug erforderlich machen oder dazu führen, dass Kindergelder beansprucht und ins Herkunftsland geschickt werden. Hinzu kommt die Arbeitslosenunterstützung für Menschen, die mit Arbeitsangeboten ins Land geholt worden sind, bei veränderter Wirtschaftslage aber nicht mehr gebraucht werden.
Die meisten Menschen leben ortsgebunden.
Von der Personenfreizügigkeit wird in der EU weit weniger Gebrauch gemacht, als insbesondere vor der Osterweiterung befürchtet worden ist. Die meisten Menschen leben ortsgebunden. Oder sie bleiben nach einem einmaligen Ortswechsel dauerhaft an neuen Orten. Oder sie kehren, wenn sich die Wirtschaftslage im Herkunftsland verbessert hat, wieder dorthin zurück.
Zu welchen Mengenwerten hat die Personenfreizügigkeit geführt? 2004 waren nur 2 Prozent der festen EU-Wohnbevölkerung nicht in dem EU-Land zur Welt gekommen, in dem sie wohnten. Inzwischen sind es 3,6 Prozent oder real 18,5 Millionen Menschen, wie für 2015 vorliegende Angaben von Eurostat zeigen. Doch mit 34,3 Millionen ist die Zahl der Menschen, die von ausserhalb in die EU kamen und nun in einem Mitgliedstaat leben, beinahe doppelt so gross.
Im Falle des Brexits geht es nicht nur um die Frage der künftigen Migration, sondern auch um die Folgen der bisherigen Personenfreizügigkeit. Zu den wichtigsten Verhandlungspunkten gehört der fremdenpolizeiliche Status der 3,2 Millionen EU-Bürger und -Bürgerinnen, die in Grossbritannien, und der 1,2 Millionen Briten, die auf dem Kontinent leben.
Die Personenfreizügigkeit ist als integraler Bestandteil des Binnenmarkts eingeführt worden – neben den anderen drei Freiheiten für Waren, Kapital und Dienstleistungen. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die dieses Paket nicht als zwingend betrachten und es auflösen wollen. Der heute in Bern lehrende Basler Volkswirtschaftsprofessor Aymo Brunetti zeigte sich im Dezember 2016 überzeugt, dass «die Personenfreizügigkeit der EU in ihrer heutigen Form die nächsten fünf bis zehn Jahre nicht überleben» werde.
Arbeitsmobilität nicht zwingend nötig
Grosse Beachtung hat das laute Nachdenken des Brüsseler Thinktanks Bruegel gefunden, der bereits im August 2016 als Reaktion auf den Brexit erklärte, Arbeitsmobilität sei nicht zwingend nötig und sollte durch nationale Zuwanderungsquoten gesteuert werden können.
Bruegel hat damit einen Gedanken ausgesprochen, der in der Luft lag. Schon Gerhard Schwarz hatte ihn zuvor, im Juli 2016, in den Raum gestellt. Der frühere NZZ-Chefökonom und ehemalige Direktor des helvetischen Thinktanks Avenir Suisse ging von der Frage aus, ob es aus liberaler Sicht ein Menschenrecht auf freie Wanderung gebe. Für ihn hört nach dem bekannten liberalen Axiom die Freiheit des einen da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Der eine ist in diesem Fall der einzelne Migrant oder die einzelne Migrantin. Und der andere, das sind die Länder, Staaten und Gesellschaften, deren Freiheit darin besteht, die eigenen Interessen zu wahren. Schwarz anerkennt, dass Einwanderung – auch in grösserem Umfang – durchaus vorteilhaft sein kann, und fragt rhetorisch: Wo wären die USA und die Schweiz wirtschaftlich, kulturell, wissenschaftlich heute, hätten sie in der Vergangenheit nicht eine grosse Offenheit gegenüber Zuwanderern praktiziert?
Es geht nicht nur darum, ein bestimmtes Territorium zu verteidigen, sondern auch ein Gesellschaftsmodell, das darauf entstand.
Offenbar kann es aber auch eine Sättigung geben. Schwarz macht darauf aufmerksam, dass die Menschen heute in eine Infrastruktur einwandern, welche die westlichen Industrieländer über lange Zeit aufgebaut hatten (zum Teil auch mit Einwanderern). Es sei eine Migration in steuerfinanzierte Institutionen wie Schulen und Spitäler, in einen Wohlfahrtsstaat und in eine gewachsene politische Staatskultur. Die Folgen dieser Migration seien für die «Ansässigen» nicht nur gut. Sie verlange Investitionen, koste Geld und drohe den Charakter der bestehenden politischen «Hard- und Software» zu verändern.
Das ist tatsächlich bedenkenswert. Es geht nicht nur darum, ein bestimmtes Territorium der Welt zu verteidigen, sondern auch ein Gesellschaftsmodell, das darauf entstand. Dieses darf aber nicht kompakter und homogener gesehen werden, als es in der sozialen Realität ist. Diversität bildet ein wichtiges Charakteristikum dieses Gesellschaftsmodells, darum sollte das auch die Haltung gegenüber Zuwanderung mitbestimmen.
Der Schwarzschen Kosten-Nutzen-Rechnung ist zudem entgegenzuhalten, dass in einem Land nicht alle gleichermassen von Arbeitskräfteimport profitieren. Anzuerkennen ist, dass im Text des Ökonomen für Flüchtlinge ein Menschenrecht auf Asyl vorkommt.
Bereits Zugewanderte empfangen spätere Nachwanderer nicht automatisch mit offenen Armen.
Wer bestimmt über Mass und Art der Migrationsoffenheit? Schwarz spricht von der Bevölkerung, meint damit aber die Bürger und Bürgerinnen. Das ist gerade in der Schweiz mit ihrem Ausländeranteil von rund 25 Prozent alles andere als deckungsgleich.
Würde man bei Migrationsentscheiden die fest niedergelassenen Ausländer einbeziehen, könnte man allerdings nicht mit mehr Offenheit rechnen. Zugewanderte empfangen spätere Nachwanderer nicht automatisch mit offenen Armen.
Innerhalb gesetzter Migrationsregeln bestimmen Arbeitgeber, wen man in der Schweiz haben will. Das Abschöpfen von Talenten und gut Ausgebildeten aus Drittstaaten erscheint dabei als Selbstverständlichkeit. Aus der Sicht derjenigen, die sich rekrutieren lassen, ist das eine erfreuliche Sache – und fast ein Menschenrecht. Weniger erfreulich ist es für die vom Brain Drain betroffenen Herkunftsländer. Dadurch wird regionale Unausgewogenheit weiter verstärkt. Ein Migrationswettbewerb macht die bereits Starken immer stärker.