Immer auf dem neusten Stand, so lautet der Imperativ der Medien. Doch Tempo ist nicht alles. Wer informiert sein will, sollte sich Lesepausen gönnen, um Nachdenken zu können.
Von Tages- wie von Wochenzeitungen und Tageswochen-Zeitungen (sofern es solche im Plural gibt) wird erwartet, dass sie aktuell sind. Doch wenn wir kurz nachdenken, wird uns schnell bewusst, wie relativ die Aktualitätsvorstellungen sind. Wir erinnern uns an den bekannten Spruch, dass es nichts weniger Aktuelles gibt als die Zeitung von gestern.
Darum kann man auch an Kiosken fast nie Zeitungen vom Vortag kaufen. Sie sind bereits zurückgeschickt (remittiert) oder direkt entsorgt worden. Allenfalls findet man im Tram ein liegengelassenes Gratisblatt.
Es könnte freilich vorkommen, dass man von einem hochinteressanten Artikel in einer uns nicht persönlich zur Verfügung stehenden Zeitung gehört hat. Den will man sich beschaffen, was heute – Elektronik sei Dank – wesentlich einfacher ist.
Einmal gelesen und noch immer als hochwichtig beurteilt, wird dieser Artikel möglicherweise irgendwo aufbewahrt und sogar weitergegeben. Dann wird man, was mündlich permanent passiert, selber zum Botschafter einer zuvor erhaltenen Botschaft.
Der Feind des bereits vorhandenen Neuen ist das nachgelieferte Noch-Neuere.
Worauf wollen diese trivialen Feststellungen hinaus? Sie wollen in Erinnerung rufen, dass wir etwas als interessant empfinden, wenn wir selber interessiert sind. An Zeitungen von gestern sind wir, wenn weitestgehend nur auf Kenntnisnahme von Neuem, Neuestem und Allerneuestem ausgerichtet, in der Regel nicht interessiert. Der Feind des bereits vorhandenen Neuen ist das nachgelieferte Noch-Neuere.
Hier kann man wieder einmal an die Anekdote erinnern, wonach Kaiser Wilhelm II., stets einem oberflächlichen Tiefsinn huldigend, seinen Hofastronomen jovial gefragt haben soll: «Was gibt es Neues am Himmel?» Worauf dieser zurückfragt: «Ja kennen, Majestät, denn das Alte schon?»
Es mag eine Deformation des Historikers sein, dass er sogar Zeitungen von vorgestern besonders interessant finden, weil ihn auch interessiert, wie frühere Aktualitäten im Lichte des späteren Besserwissens präsentiert, gedeutet, bewertet werden.
Dabei könnte man, was doch ziemlich interessant und sogar aufklärerisch wäre, unzutreffenden Behauptungen, insbesondere falschen Befürchtungen und trügerischen Hoffnungen begegnen, wenn sich zeitverschoben Besserwissen einstellt. Das könnte man jetzt, wenn es sich lohnen täte, in den vor den Wahlen verfassten Kommentaren der «Basler Zeitung» durchspielen.
Aktuell ist nicht nur, was gerade stattgefunden hat, sondern auch das, was ein bereits bestehendes Interesse bedient.
Es steigert unser Bewusstsein, wenn wir uns vergewissern, was das eigentlich ist, was wir täglich und wöchentlich vor uns haben: nämlich Druckerzeugnisse (nun auch elektronische Post), die mit einer Kombination von vier Gegebenheiten umschrieben werden: Periodizität (regelmässiges Erscheinen), Publizität (allgemeine Zugänglichkeit), Universalität (inhaltliche Vielfalt) und dann eben und eigentlich nicht zuletzt Aktualität (was mit Zeitnähe gleichgesetzt wird).
Aktualität ist mit Zeitnähe aber völlig ungenügend umschrieben. Aktuell ist nicht nur, was gerade stattgefunden hat, sondern auch das, was infolge von Medien bereits geweckter Aufmerksamkeit ein bestehendes Interesse bedient – und dann «in aller Munde» ist. Zeitungen sollten gewiss vor allem Neues bringen. Darum gibt es welche, die sich gleich selber neu nennen. Es gibt noch immer eine NZZ, wie es einmal eine, allerdings sonderbare «Neue Basler Zeitung» gegeben hat.
Es geschieht jedoch in jedem Moment so viel auf der Welt, was nicht in den temporären Adelsstand des Aktuellen gehoben wird. Wie aktuell ist der Krieg in Syrien und welche weiteren Einzelbegebenheiten müssen da stattfinden, dass sie als aktuell empfunden werden, zwischen anderen Dauerthemen wie Hunger in Afrika, Armut in Russland, Polizeirassismus in den USA oder Atomversorgung in der Schweiz?
Erleichterter Zugang
Das Ausmass des tagtäglich Unbeachteten könnte elend, es müsste uns aber auch bescheiden machen. Denn es ist nicht nur so, dass Medien vieles unbeachtet lassen, auch wir tun dies bezüglich dessen, was Medien immerhin für beachtenswert einstufen und darum an uns weiterreichen. Von den meisten Zeitungen lesen wir, weil wir nicht mehr Zeit aufbringen können oder wollen, höchstens ein Viertel des Angebotenen.
Mit dem Schriftsteller Joseph von Westphalen kann man feststellen: «Die tägliche Einsicht, nur einen Bruchteil des Wissenswerten aufnehmen zu können, macht auch den gierigen Leser bescheiden und melancholisch und verleiht der Zeitungslektüre möglicherweise den Reiz aller flüchtigen Begegnungen, die den Traum von einer tieferen Bekanntschaft hinterlassen. Es ist zum Heulen, was alles sang- und klanglos untergeht, was täglich an Lesenswertem übersehen oder nur überflogen wird.»
Mit der leichten Zugänglichkeit von elektronischen Texten hat sich vieles geändert. Gerade Westphalens Reflexionen über den Umgang mit dem täglichen Zeitungsangebot zeigt dies: Im Moment ihrer Publikation erreichten sie mich nicht, und ich erreichte sie nicht. Publik gemacht wurden sie schon vor über einem Jahrzehnt (2005) in einer fernen Zeitung (der «Berliner Tageszeitung»). Dennoch sind sie inzwischen jederzeit hier und jetzt erreichbar.
Heute finden wir in erster Linie, was wir suchen. Herrlich, aber auch fatal!
Dabei ist die Dynamik aber eine völlig andere geworden: Heute kommt nicht ein breites Angebot von echten und weniger echten Aktualitäten auf uns zu und ermöglicht uns erweiternde und überraschende Begegnungen. Jetzt finden wir in erster Linie, was wir suchen. Herrlich, aber auch fatal! Unser Finden hängt nun ganz von uns, von unserem Suchen ab. Das Einzelgängerische solcher Egotrips wird allerdings aufgefangen, wenn wir in einem Netzwerk mit anderen Egos verknüpft sind, die uns zu «Followern» machen und uns Gelegenheit geben, aufgespürte Ressourcen gemeinsam zu nutzen – zu teilen. So kann ich hier auch Westphalen weiterreichen.
Neuerdings erreichen uns auf elektronischem Weg unbestellte Medienangebote, von denen gleich neben dem Titel gesagt wird, wie viel Zeit wir brauchen, um sie zu lesen. Fast wie die Angaben der bekannten gelben Schilder am Anfang einer Wanderung. Im Falle des medialen Kurzfutters kann das schon beeindrucken. Soll man die vier oder sechs Minuten für das unversehens Angelieferte hergeben?
Was bekommen wir dafür? Die Frage, wofür wir andere vier oder sechs Minuten verbrauchen, stellen wir uns nicht. Die Versuchung ist gross, es schnell, vielleicht noch schneller zu lesen, um es dann wegklicken und vergessen zu können, bevor man es eigentlich wahrgenommen hat.
Der Vergleich von Lesen und Wandern zeigt, dass die Qualität dieses Tuns mit dem Tempo nicht automatisch besser wird.
Würde man auch Bücher mit Zeitangaben zum Leseaufwand versehen, wäre das vielleicht abschreckend. Geld kann man unter Umständen leichter ausgeben als die viele Zeit für das Gekaufte aufbringen. Bei Hörbüchern gibt es aber diese Angaben, weil man dann weiss, wie viel Akustik man für den Preis bekommt: Erasmus’ «Lob der Torheit»: 88 Minuten, Musils «Mann ohne Eigenschaften»: 19 h 20 min.
Die Angabe zum Zeitbedarf für das Selbstlesen beruht auf Durchschnittswerten. Es gibt aber Schnell- und Langsamleser, wie es Schnell- und Langsamwanderer gibt. Der Vergleich von Lesen und Wandern zeigt, dass die Qualität dieses Tuns mit dem Tempo nicht automatisch besser wird. Wie schnell darf Wandern sein, damit es noch gutes Wandern ist?
Gleiche Frage beim Lesen. Da sind Pausen gut, nicht nur, um sich von zurückgelegten Strecken zu erholen. Innehalten beim Lesen gibt Gelegenheit zum Nachdenken über Gelesenes, wie umgekehrt das Nachdenken Lesepausen braucht.
Ein einzelner Satz kann neue Türen öffnen.
Hier soll Westphalen nochmals zu Wort kommen. Er plädiert für ein langsames und genaues Lesen, für ein Lesen mit Hirn und Herz: «Man muss beim Lesen denken oder fantasieren oder assoziieren, das dauert dann zwar länger, anders hat es aber keinen Sinn.» So könne auch nur ein einzelner Satz neue Türen öffnen. Westphalen bezieht sich da auf ganz gewöhnliche Presseprosa, nicht auf ambitiöse Literatur. Doch bei dieser haben wir diese Erwartung zu Recht in höherem Mass.
Wie aktuell müssen Bücher sein? Bei Büchern verschiebt sich der Aktualitätsbegriff etwas weg vom oberflächlichen Newsbetrieb. Jedenfalls beziehen sie ihren Wert weniger im Vermitteln von «letzten Nachrichten». Da gilt das Gesetz, dass nur hohe Qualität Beständigkeit auch lange nach dem ersten Erscheinungstermin gewährleistet – wie im Falle von Erasmus und Musil.
Neuerscheinungen von Büchern werden allerdings ebenfalls zu Aktualitäten gemacht, insbesondere an Buchmessen und mit Buchpreisen. Das funktioniert im Herbst besonders gut, in einer Jahreszeit, da die Menschen noch immer geneigt sind, Vorräte für die langen Winternächte anzulegen. Freilich ist es noch nicht lange her, da wurden Bücher mit Blick auf den bevorstehenden Sommer angeboten, für die Lektüre auf der Reise und am Strand – «le livre d’été». Das lehrt uns, dass Aktualität offenbar immer aktuell ist oder es wenigstens sein will.