Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht

Bleibt Grossbritannien in der EU oder kommt es zum Brexit? Am 23. Juni ist Stichtag. Über den Austritt oder Verbleib entscheiden Kopf, Herz und der Bauch.

Eins, zwei oder drei: Wohin treibt's die Insel?

(Bild: Nils Fisch)

Bleibt Grossbritannien in der EU oder kommt es zum Brexit? Am 23. Juni ist Stichtag. Über den Austritt oder Verbleib entscheiden Kopf, Herz und der Bauch.

Der Countdown läuft. In wenigen Tagen wird Grossbritannien einen historischen Entscheid fällen: aus der EU austreten oder in ihr verbleiben – «to leave or to remain». Da wir (zusammen mit der halben Million auf dem Kontinent wohnhaften Briten) über den Brexit nicht abstimmen dürfen, müssten wir dazu eigentlich keine Meinung haben. Wäre dies jedoch das Kriterium, dann gälte das auch für das meiste, was in der Welt geschieht. Auch für das Waffengesetz in den USA oder etwa für die Frage, wer die Fussball-EM gewinnen wird. Doch wie wir die Welt verstehen, verstehen wir uns selber.

Die Brexit-Frage muss in der Schweiz speziell interessieren. Vom Ausgang erwartet man auch Auswirkungen auf das vertrackte Verhältnis der Schweiz zur EU. Und ausserdem bestärken sich die EU-Gegner in Grossbritannien wie in der Schweiz mit wechselseitigen Bezügen und Besuchen in ihrer ablehnenden Haltung. Die Brexit-Debatte spiegelt in mancher Hinsicht Positionen, die auch hierzulande vertreten werden.

Es geht um mehr als um eine brüchige Vernunftehe

Der «23. Juni» zeigt so drastisch wie dramatisch die ganze Problematik einer Abstimmung, die das Schicksal einer 65-Millionen-Gesellschaft bestimmt und Auswirkungen auf Europa und die Weltwirtschaft haben wird. Die grosse Tragweite eines solchen Entscheides steht im krassen Widerspruch zu den erwartet knappen und darum auch etwas zufälligen Mehrheits- und Minderheitsverhältnissen. Kommt hinzu, dass das Votum, das schliesslich in ein einfaches Ja oder Nein mündet, das Ergebnis höchst unterschiedlicher Motivation ist, gegenläufiger Ängste wie Hoffnungen. Aus diesem Stoff sind eben solche Plebiszite.

Die Beziehung UK–EU wird gerne mit dem Bild der Vernunftehe veranschaulicht. Wenn es zwischen «London» und «Brüssel» nicht gut läuft, wird sogar eine Beziehungstherapie empfohlen. Das verkennt allerdings, dass es um Verhältnisse zwischen staatlichen Akteuren mit höchst widersprüchlichem und wirrem Innenleben geht.

Was die Experten empfehlen, könnte bei Menschen, die gegenüber Eliten ausgesprochen misstrauisch sind, genau das Gegenteil bewirken.

Ausstiegsbefürworter nähren die Hoffnung, dass es Land und Leuten nach dem Brexit wieder gut ginge. Die Einwanderung samt der ihr zugeschriebenen Negativerscheinungen würde drastisch gestoppt und die individuellen Lebensumstände deutlich besser, wenn die nationale Selbstständigkeit zurückerobert sei – was eine Fata Morgana ist. Ausstiegsgegner warnen dagegen vor einer Erosion der Altersrenten, beziffern den vorausgesagten Wohlstandsverlust mit jährlich 4300 Pfund pro Haushalt und prognostizieren für das Land nationale Irrelevanz ausserhalb der EU.

«Yes» und «No» fassen je unterschiedliche Kräfte zusammen. Selbst im Ja-Lager gibt es zwei Unterlager: Die Ultranationalisten mit Ukip und Nigel Farage wollen mit Protektionismus das Land abschotten. Und die Ultraglobalisten, angeführt von Tory-Ex-Bürgermeister Boris Johnson, streben weltweiten Freihandel an und möchten ein Super-Singapur werden. Hinzu kommen diejenigen, die mit ihrem Ja zum Brexit vor allem Cameron stürzen wollen.

Das Nein-Lager gibt sich einheitlicher. Es versammelt aber ebenfalls unterschiedliche Vorstellungen, wie das Verbleiben in der EU schliesslich ausgestaltet werden soll.

«In or out?» Soll in einer derart tiefgreifenden Frage die eine Hälfte für die andere Hälfte entscheiden können? Hält man sich das Ausmass dieser Frage vor Augen, erscheint das Plebiszit, das Primeminister David Cameron aus parteipolitischem Kalkül angestossen hat, als eine höchst frivole Sache.

Sehnsucht nach Vergangenheit nimmt eine ungewisse Zukunft in Kauf.

Seit Wochen ist schon über das «in» oder «out» diskutiert, ja gestritten worden. Die Debatte dürfte vor allem im Mittelfeld der Unentschlossenen in die eine und andere Richtung gewirkt haben. Die geballte Expertenmeinung hochstehender Gremien – ob nationale Wirtschaftskammer oder Internationaler Währungsfonds – dürfte dabei nicht das Gewicht haben, das ihr gemäss ihrer fachlichen Kompetenz eigentlich zukommen müsste. Ganz im Gegenteil: Solche Empfehlungen könnten bei Menschen, die gegenüber Eliten ausgesprochen misstrauisch sind, sogar das Gegenteil bewirken.

Kopf oder Herz?

Das Nein zu Europa orientiert sich an einer verklärten Vergangenheit und stemmt sich gegen eine überfordernde Moderne. Eine paradoxe Haltung, denn sie stimmt aus einer aktuellen Unsicherheit heraus einem Weg zu, auf dem noch mehr Unsicherheit lauert. Sehnsucht nach Vergangenheit nimmt eine ungewisse Zukunft in Kauf.

Ein mit EU-Subventionen «gefütterter» Landwirt erklärte beim Füttern seiner Schafe vor laufender Kamera, sein Herz wäre zwar für einen Brexit, sein Kopf heisse ihn immerhin, dagegen zu sein. Und diesem werde er folgen. Es ist nicht sicher, dass sich eine Mehrheit so verhält. Zudem ist schwer einzuschätzen, was der Bauch denkt, der dazu vielleicht auch noch etwas zu sagen hat.

Dass nach einem Verbleib immer wieder ein Austritt gefordert wird, ist denkbar. Nicht so, dass man bei einem Austritt nochmals abstimmen kann.

Was könnte eher das Herz, was eher den Kopf ansprechen? Ist anzunehmen, dass die persönlichen Interessen eher mit dem Verstand beurteilt und die übergeordneten Fragen eher mit dem Gemüt angegangen werden? Und könnte das Herz selbst einiger Briten nicht auch ein wenig für Europa schlagen, wie ja auch der Kopf mancher «continentals» mit gewissen Leistungen der Union nicht zufrieden ist?

Nach Auffassung einer Verständnisschule geht es beim Entscheid um einen legitimen Bürgerentscheid und damit um etwas, worüber man völlig frei und – theoretisch – ständig neu befinden kann. Die Briten durften bekanntlich schon einmal über den Brexit entscheiden. Davon war an dieser Stellen schon früher die Rede. So komfortabel wie im Juni 1975, als 67,2 Prozent für ein Verbleiben stimmten, wird es jetzt aber sicher nicht ausgehen. Zumal die Presse, die damals deutlich für ein Verbleiben war, jetzt massiv den Exit befürwortet.

Historiker sind sich uneins

Ein «ewiges» Hin und Her ist aber schwer möglich. Denkbar ist, dass nach einem Votum für das Verbleiben immer wieder neue Austrittsforderungen gestellt werden. Eher undenkbar ist hingegen, dass nach einem Votum für den Austritt wieder über einen Beitritt abgestimmt werden könnte. Hingegen wird darauf spekuliert, dass die EU sich wegen der nicht zu bewältigenden Probleme gelegentlich zurückbilden könnte und man sich dann, wie schon Ende der 1950er-Jahre gewünscht, in einer grossen Freihandelszone wiederfände.

Dem Entscheid stehen kaum zuverlässige Kriterien zur Verfügung.

Der historische Entscheid wird in einer sehr momentanen Gegenwart zwischen einer sehr unterschiedlich beurteilten Vergangenheit und einer sehr ungewissen Zukunft gefällt. Dem Entscheid stehen kaum zuverlässige Kriterien zur Verfügung. Darum sind Grundorientierungen, was ja nicht abwegig ist, ausschlaggebend.

Für die Beurteilung der Entwicklungen in grösseren Zeiträumen sollte eigentlich die solide Expertise der professionellen Historiker zur Verfügung stehen. Doch auch da gibt es keine Einigkeit. Eine Randgruppe unter dem Titel «Historians for Britain» ging mit dem Statement voraus, dass ihr Land ganz spezifische Werte, vor allem «the struggle for greater democracy and fairness» entwickelt habe und die britische EU-Mitgliedschaft diese gewaltig unterminiere.

Darauf meldete sich unter dem Titel «Historians for Britain in Europe» eine Gruppe von 300 historischen Fachleuten, unter ihnen Niall Ferguson und andere der allerersten Liga. Sie betonen, dass in der Vergangenheit – entgegen dem Mythos des «isolated island» – die Beziehungen zwischen Grossbritannien und dem Kontinent stets eng und fruchtbar gewesen seien. Und sie zitieren den schottischen Philosophen David Hume aus dem 18. Jahrhundert, der gesagt hat, dass die Briten Barbaren geblieben wären, hätten sie sich gegen ausländische Einflüsse gesperrt. Die Historiker, als Vergangenheitsexperten auch für Zukunft zuständig, geben zu bedenken, dass künftig nationale Interessen nur im Verbund mit übernationalen Formationen wie der EU effektiv wahrgenommen werden können.

Wetten, dass …?

Der Zukunft ist eigen, dass sie meistens ungewiss ist und ungewisser wird, je weiter entfernt sie ist. Für die unmittelbar bevorstehende Zukunft würde ich – müsste ich bei den legendären britischen Buchmachern eine Wette abschliessen – schon ein paar Pfund auf ein Verbleiben der Briten setzen. Das sei hier auch aufs Risiko hin gestanden, dass diese Annahme, die nicht einfach dem Wunschdenken entsprungen ist, am 23. Juni nicht eintreten wird.

Nächster Artikel