Ohne Zivilgesellschaft keine Demokratie

Demokratie ist ein ewiger Prozess. Er kennt kein Ende, kann aber immer und überall einen Anfang finden. Damit eine demokratische Revolution gelingen kann, braucht es eine starke Zivilgesellschaft. Das lässt sich im arabischen Raum gegenwärtig gut beobachten.

epa04462188 Supporters of Rachid Ghannouchi, leader of the Islamist Ennahda party, attend an electoral campaign rally in Tunis,Tunisia on 24 October 2014. The parliamentary elections in Tunisia are scheduled for 26 October. The elections are a major step in the process of democratization in Tunisia, the birthplace from late 2010 of the Arab Spring uprisings. EPA/MOHAMED MESSARA (Bild: MOHAMED MESSARA)

Demokratie ist ein ewiger Prozess. Er kennt kein Ende, kann aber immer und überall einen Anfang finden. Damit eine demokratische Revolution gelingen kann, braucht es eine starke Zivilgesellschaft. Das lässt sich im arabischen Raum gegenwärtig gut beobachten.

Die Idee, sich die Demokratie als Mosaik von Hunderten sich bewegender Elemente vorzustellen, die jedes für sich und alle zusammen auch in ihrer Beziehung zueinander die Qualität der Demokratie ausmachen, ist ganz praktisch. Deshalb begegnet man ihr derzeit immer wieder an verschiedenen Orten und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen.

An den Orten, wo viele unter der Regression des Prozesses der Demokratie leiden, erlaubt dieses Konzept die Benennung konkreter Defizite und verdrängter Ansprüche. Dort, wo der Fortschritt des demokratischen Prozesses deutlich wird, ermöglicht dieses Konzept dessen Analyse. Und zwar derart, dass an wiederum anderen Orten, wo der demokratische Prozess noch gar nicht richtig in Gang gekommen ist, viele merken, woran sie arbeiten müssen, um diesen Prozess zu starten.

Dies im Wissen, dass die Demokratie ein ewiger Prozess ist, der nie zu Ende sein wird – es gibt schliesslich nirgends und niemals eine perfekte, vollendete Demokratie –, dass aber keine Lebensumstände oder gesellschaftlichen Bedingungen zu schlimm wären, um nicht mit diesem Prozess zu beginnen. Das heisst, der Prozess der Demokratie ist nie zu Ende, kann aber immer und überall einen Anfang finden. Ein Gedanke, den der ehemalige portugiesische Präsident Jorge Sampaio kürzlich in Lissabon ins schöne Bild fasste, die Demokratie sei eben kein Ziel, sondern eine lange, nie endende Reise.

Die Indignados aus Spanien rufen nach einer «wahrhaften Demokratie»

Das Land, in dem die Regression der Demokratie derzeit in Europa wohl am intensivsten diskutiert wird, ist Spanien. Seit dem Sommer 2011, als Hunderttausende vor allem junge und arbeitslose Spanierinnen und Spanier – sie nannten sich selber die Indignados (Die Empörten) – wochenlang die grossen Plätze unzähliger Städte belagerten, wird um deren Forderung nach «wahrhafter und echter Demokratie» gerungen.

Der den Indignados nahestehende Intellektuelle Emmanuel Rodriguez erklärte in einer Streitschrift unter dem Titel «Die Hypothese Demokratie; 15 Thesen zur angekündigten Revolution», was unter dieser Forderung zu verstehen ist. Rodriguez beklagt, dass der Begriff Demokratie heute nur noch für eine «Gesamtheit von Institutionen» stehe. Und plädiert für die Rückbesinnung auf die Substanz des Begriffes Demokratie: die radikale Gleichheit eines jeden Menschen in der politischen Partizipation und in der Verteilung des Reichtums.

Damit illustriert Rodriguez einmal mehr, dass die Demokratie nicht nur all die Verfahren, Institutionen, Orte und Formen gesellschaftlich wesentlicher Entscheidungen meint, sondern auch ein normatives Versprechen bezüglich dem Ergebnis dieser Entscheidungen beinhaltet: dasjenige einer fairen Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums, einer gerechten Verteilung der Lebenschancen. Rodriguez meint denn auch, Spanien sei in vielerlei Hinsicht keine Demokratie, sondern eine «Oligarchie in den Händen einer politischen Klasse mit engen Bindungen an die Wirtschaftseliten».

Die drei wichtigsten Bausteine der tunesischen Revolution

Mohamed Bouazizi hatte genug von der Überheblichkeit und der Willkür, mit der ihm die Behörde der Kleinstadt Sidi Bouzid im Zentrum Tunesiens eine kleine Standbewilligung verweigerte. Sie verhinderte damit, dass Bouazizi, immerhin ein junger Mann mit abgeschlossenem Studium, sich und seine Familie als Gemüsehändler über die Runden bringen konnte. Seine Protestaktion – er zündete sich vor dem Stadthaus an – kostete ihn zwar das Leben. Doch es gelang ihm, eine eigentliche friedliche Revolution in Tunesien auszulösen.

Mehr als eine Million Menschen gingen auf die Strasse, der Diktator verschwand innert drei Wochen und eine grosse, alle bisher unterdrückten sozialen Kräfte der Revolution (Jugendliche, Arbeitslose, Menschenrechtler, Gewerkschafter, Frauen, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Journalisten) repräsentierende Versammlung verständigte sich unter anderem auf ein neues Wahlrecht. Dieses erlaubte im Herbst 2011 die erste demokratische Wahl in der 55-jährigen Geschichte des unabhängigen Tunesiens zur Verfassungsgebenden Versammlung und Ende Oktober nun auch die Wahl des ersten wirklich demokratischen Parlamentes.

Die tunesische Revolution griff schnell auf die benachbarten Staaten und Regionen über und führte zu dem, was schnell im Anklang an den «europäischen Völkerfrühling von 1848» als «Arabischer Frühling» bezeichnet wurde. Doch dieser gelang bisher nur in Tunesien. Weshalb? Als er diese Frage zu beantworten hatte, verwies der erste postrevolutionäre Premierminister Beji Caid Essebsi, der durchaus in den Wahlen vom übernächsten Wochenende zum ersten Präsidenten des demokratischen Tunesiens gewählt werden könnte, auf drei weitere Bausteine jener Demokratie hin.

Essebsi erklärte vor den europarätlichen Wahlbeobachtern Mitte Oktober: «Die tunesische Revolution 2011–2014 gelang, weil unser erster Präsident, der autoritäre Habib Bourgiba, nach der Unabhängigkeit Tunesiens 1956 drei fundamentale, damals besonders für diese Region einzigartige Errungenschaften realisierte: Er befreite die Frauen und realisierte ihre zivilrechtliche Gleichstellung, er ermöglichte allen den Zugang zur kostenlosen Primar- und Sekundarschule, und er löste eine wirtschaftliche Entwicklung aus, welche einen tunesischen Mittelstand entstehen liess.»

Ohne zivilgesellschaftliche Basis keine Demokratie

Obwohl Bourgiba kein lupenreiner Demokrat war, entwickelte sich in Tunesien unter seiner Vorherrschaft eine starke Zivilgesellschaft mit starken Frauenorganisationen, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen. Sie waren es, welche im Januar 2011 der revolutionären Jugend unter die Arme griffen und vergangenes Jahr die an der zweiten postrevolutionären Regierung enttäuschende islamische Ennahda-Partei zum Rücktritt und zum nationalen Dialog zwang, der die Revolution rettete.

Eine solche organisations- und handlungsfähige zivilgesellschaftliche Basis, eine breite Bildung des Volkes und derart emanzipierte Frauen gibt es weder in Ägypten, Syrien oder gar Libyen. Ohne sie lässt sich eine demokratische Revolution kaum schaffen. Sie gehören zu den wichtigsten Mosaiksteinen der Demokratie und ermöglichten in Tunesien etwas, was durchaus ein kleines politisches Kunstwerk werden könnte.

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