Nach langem Zögern hat die syrische Opposition den Chef einer Interimsregierung gewählt. Ghassan Hitto, IT-Experte mit kurdischen Wurzeln und amerikanischem Pass, will in den befreiten Gebieten wieder eine Verwaltung und einen Rechtsstaat aufbauen.
Auf Druck der Arabischen Liga und westlicher Staaten hat die Syrische Nationale Koalition (SNC) in der Nacht zum Dienstag in Istanbul den Premier einer Interimsregierung gewählt. Ghassan Hitto, ein 50-jähriger Manager einer IT-Firma, hat die letzten 30 Jahre in den USA gelebt, dort studiert und Karriere gemacht und auch die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen.
Am Wochenende hatte er sich auf der Liste mit 12 Kandidaten als Favorit herauskristallisiert, nachdem die Muslimbrüder und andere Islamisten sich hinter Hitto gestellt, aber auch Liberale sich für ihn ausgesprochen hatten. Die Tatsache, dass er Kurde ist und damit einer der vielen Minderheiten des Landes angehört, sprach ebenfalls für ihn.
Verdienst um humanitäre Hilfe
Hitto ist einer grösseren Öffentlichkeit relativ unbekannt. Erst im letzten Herbst reiste er in die Region, um sich ein eigenes Bild von der Lage in Syrien zu machen. Er blieb und übernahm in der SNC eine führende Rolle im Bereich der humanitären Hilfe, wo er ein erstes Mal seine Qualitäten als guter Organisator unter Beweis stellte.
Es sei immer möglich, dass das Regime in Damaskus von einem Moment zum andern falle, erklärte er bei der Ankündigung seiner Kandidatur. Deshalb müsse ein politisches Vakuum und ein Chaos vermieden werden und dazu sei eine Interimsregierung notwendig. Nicht alle Mitglieder der Exil-Opposition teilen diese Meinung. Einige Teilnehmer der Istanbuler-Konferenz sind deshalb der Wahl fern geblieben. Haytham Manna kritisierte in einer arabischen Zeitung, dass eine Interimsregierung eine Verhandlungslösung verhindern und die politische Spaltung nur vertiefen würde.
Andere äusserten die Befürchtung, eine Regierung, die den befreiten Norden kontrolliere, könne zu einer Teilung des Landes führen. Die Opposition bleibt uneins, wie eine Lösung des Konfliktes, der nun genau zwei Jahre dauert und über 70’000 Tote gefordert hat, gesucht werden soll.
Gegenregierung im Norden Syriens
Die Herausforderung, die vor ihm liege, sei gewaltig, erklärte Hitto in einer ersten kurzen Rede am Dienstag in Istanbul. Alle Anstrengungen seien darauf ausgerichtet, das Assad-Regime zu stürzen und die Bevölkerung zu versorgen. Verhandlungen mit Präsident Assad schloss er aus. Die Interimsregierung beginnt ihre Arbeit in den befreiten Gebieten im Norden, wo eine Administration und Recht und Ordnung wieder hergestellt werden sollen. Als erstes muss er die Minister seines Kabinetts ernennen, das werde nicht politisch austariert; Kriterien seien nur Kompetenz und Qualität, kündigte er an.
Geplant sind auch Reisen in befreundete Länder, die er aufforderte, die erste Exekutive der syrischen Revolution zu unterstützen. Diese erhoffen sich von einer Interimsregierung eine Anlaufstelle über die humanitäre Hilfe und nicht-letale Militärhilfe – also keine Waffen – nach Syrien geschickt werden können. 33 Staaten wollen ebenso wie die Arabische Liga einen Botschafter der syrischen Opposition akkreditieren. Ob diese Interimsregierung mit ihren bescheidenen Mitteln in der Lage ist, die Verantwortung für Millionen von Flüchtlingen im Ausland und Vertriebene im Land zu übernehmen, wird sich zeigen müssen.
Keine Autorität über islamistische Kämpfer
Klar ist auch, dass ihre Autorität auf die befreiten Gebiete, die nun etwa 60 Prozent des Territoriums ausmachen, beschränkt ist und nicht alle Rebellen einschliesst. Generalmajor Salim Idriss erklärte, dass jene bewaffneten Verbände, die unter dem Kommando der Freien Syrischen Armee (FSA) stehen, die Interimsregierung anerkennen würden. Die vielen islamistischen Gruppierungen, die besser mit Geld und Waffen versorgt sind und auf deren Konto die meisten militärischen Erfolge gehen, werden sich von diesem Exil-Kabinett nichts sagen lassen.
Auch die regierungstreuen Medien berichteten über die Bestrebungen der «Doha-Koalition» – wie die Zeitung al-Watan das Oppositionsbündnis nennt – eine Interimsregierung zu bilden. Sie sprach von wilden Träumen. Die Opposition sei abgehoben von der Realität und den Ereignissen im Kriegsgebiet.
Heftige Kämpfe in Damaskus
Dort gingen die Kämpfe auch am Dienstag unvermindert weiter, nachdem am Montag nach Angaben des Syrischen Observatoriums für Menschenrechte über 180 Tote gezählt worden waren. Mehrere zentrale Bezirke von Damaskus lagen unter heftigem Artillerie-Feuer der Regierungssoldaten. Die FSA hat den Flughafen, einen Präsidentenpalast und das Kongresszentrum angegriffen. Das Regime warf den Rebellen am Dienstag erstmals vor, in der Provinz Aleppo eine Rakete mit einem mit einem chemischen Stoff gefüllten Sprengkopf abgeschossen und 15 Menschen getötet zu haben.