Wie weiter bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative? Der Bundesrat präsentiert seine Vorschläge, die Parteien zerreissen sie in der Luft.
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Darum gehts
- Am 12. Februar 2015 gab der Bundesrat bekannt, wie er die Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) der SVP umsetzen will und schickte sein Konzept in die Vernehmlassung. Parteien, Verbände und Kantone hatten danach fast vier Monate Zeit, sich zum Bundesratsvorschlag zu äussern.
- Der Bundesrat bleibt bei der Umsetzung nahe am Initiativtext. Er will Kontingente für ausländische Arbeitskräfte und für Grenzgänger sowie einen Inländervorrang einführen – vorausgesetzt, dass die EU dies akzeptiert.
- Mit dem Gesetzesvorschlag verabschiedete der Bundesrat auch ein definitives Verhandlungsmandat mit der EU, das bisher keine konkreten Ergebnisse zutage förderte.
- Neben Kontingenten und Inländervorrang will der Bundesrat auch flankierende Massnahmen durchführen, namentlich die Fachkräfte-Initiative, die beispielsweise die Ausbildung von Ärzten in der Schweiz fördern soll.
- Am 28. Mai lief die Vernehmlassungsfrist ab. Nun beschäftigt sich der Bundesrat mit den Antworten der Parteien und hat die Möglichkeit, seine Vorschläge zu überarbeiten, bevor die Gesetzesvorlage ins Parlament kommt. Die Überarbeitung dürfte erneut mehrere Monate in Anspruch nehmen.
«10 vor 10»-Sendung zum Umsetzungskonzept des Bundesrats, 11.02.2015:
Das sind die strittigen Punkte
- Kontingente: Die MEI schreibt Kontingente und Höchstzahlen für ausländische Arbeitskräfte vor. Das ist mit dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der EU nicht vereinbar. Der Bundesrat will deshalb zuerst mit der EU verhandeln, bevor er die Kontingente und Höchstzahlen in die Gesetzesvorlage schreibt.
- Inländervorrang: Da der Inländervorrang ebenfalls mit dem FZA kollidiert, will der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU abwarten, bevor ein entsprechender Passus ins Gesetz geschrieben wird. Inländervorrang meint, dass Schweizer Arbeitgeber zuerst eine Person aus der Schweiz anstellen müssen, bevor sie eine ausländische Arbeitskraft rekrutieren dürfen. Seit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens (2007) gilt der Inländervorrang für EU-Ausländer nicht mehr, entsprechend der MEI soll er nun wieder eingeführt werden.
- Familiennachzug: Laut heutigem Gesetz dürfen Familienangehörige von ausländischen Personen in die Schweiz ziehen, sofern ihr Verwandter in der Schweiz genug verdient. Im neuen Verfassungstext steht, der Anspruch auf Familiennachzug könne «beschränkt werden». Der Bundesrat schlägt nun vor, die Regeln zum Familiennachzug vorerst so zu lassen, wie sie sind. Dies stösst insbesondere bei SVP und FDP auf Kritik. Solange der Familiennachzug so bleibe, sei die Initiative nicht richtig umgesetzt, schreibt die SVP.
- Schutzklausel: Der ehemalige Staatssekretär Michael Ambühl machte im letzten Dezember einen Vorschlag, wie die Initiative umgesetzt werden kann, ohne dass sie mit dem FZA kollidiert. Er forderte, dass die Zuwanderung nicht mit fixen Kontingenten beschränkt wird, sondern nur dann eingeschränkt werden kann, wenn sie eine bestimmte Grenze überschreitet. Diese Schutzklausel lehnte der Bundesrat ab. Im Umsetzungskonzept gibt es keine Schutzklausel. BDP, GLP und der Wirtschaftsverband Economiesuisse setzen sich nach wie vor für eine Schutzklausel ein, obwohl auch hier unklar ist, ob die EU dies akzeptieren würde.
Das kritisieren die Parteien am Bundesratsvorschlag
- Verhandlungen mit der EU: Der Bundesrat will das Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit einem neuen Gesetz nicht infrage stellen und zuerst mit der EU verhandeln, bevor er weitere Schritte in Richtung Kündigung der Bilateralen Verträge unternimmt. Die SVP meint, der Bundesrat gewähre der EU damit ein «Veto-Recht» und würde sich «von Beginn weg in eine aussichtslose Verhandlungsposition» manövrieren. Ähnlich sehen es die FDP-Vertreter. Wenn «der politische Wille» fehle, die Initiative konsequent umzusetzen, sei eine Steuerung der Einwanderung nicht möglich. Die SP unterstützt hingegen den Vorschlag des Bundesrats, «Verhandlungen mit der EU über eine Anpassung des FZA aufzunehmen und erst im Lichte des Verhandlungsresultats die Umsetzung» der Initiative vorzunehmen.
- Dauer: Der Bundesrat habe über ein Jahr gebraucht, um ein neues Gesetz vorzulegen, das kaum Änderungen beinhalte, kritisiert die SVP. Auch die CVP meint, der Bundesrat hätte schneller eine Gesetzesvorlage erarbeiten müssen – «hier ging wertvolle Zeit verloren».
- Unvollständig: Der Vorschlag des Bundesrats sei «lückenhaft» schreibt die SVP. Die Vorlage erfülle «den Anspruch der Umsetzung» klar nicht. So sei es nur eine Frage der Zeit, bis eine radikale Volksinitiative lanciert werde. Die BDP lehnt das Konzept ebenfalls ab, wenn auch aus einem anderen Grund: «Die Vorlage entspricht weder einer verfassungskonformen Umsetzung, noch wird so die Zuwanderung gesenkt.»
- Kontingente für Schutzbedürftige: Nicht nur ausländische Arbeitskräfte sollen laut Bundesrat kontingentiert werden, auch die Zahl von Asylsuchenden wäre nach dem neuen Gesetzestext durch Kontingente betroffen. Die SP lehnt «Kontingente und Höchstzahlen für vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge kategorisch ab». Flüchtlinge gelangten dadurch in eine Art Wartestatus. Auch die Grünen und Grünliberalen wehren sich gegen Kontingente für Schutzbedürftige. Die Asylverfahren würden damit «unter Umständen jahrelang künstlich in die Länge gezogen», schreiben die Grünliberalen in ihrer Stellungnahme zur Vernehmlassung.
- Begleitmassnahmen: Der Bundesrat müsse mit den flankierenden Massnahmen weiter gehen, als er es in seinem Umsetzungskonzept vorschlug. Konkret fordert die SP mehr Geld für Bildung, um weniger von ausländischen Fachkräften abhängig zu sein. Gleichzeitig müsse der Schutz vor Lohndumping verstärkt und gerechte Löhne gezahlt werden. Auch die familienergänzende Betreuung sei ein Teil der Lösung, meint SP-Präsident Christian Levrat: «Damit liessen sich vor allem Frauen besser in den Arbeitsmarkt integrieren.»
Ist die Kritik gerechtfertigt?
Jedes Kind lernt früher oder später, wie es mit den Eltern verhandeln muss. Es sagt nicht: «Ich nähme diesen ferngesteuerten Helikopter, falls ihr ihn mir kaufen wollt.» Es sagt: «Ich will diesen Helikopter» und schaut was passiert. Genau das mache der Bundesrat falsch, so die Hauptkritik der SVP und FDP. Und diese Kritik trifft ins Schwarze.
Der Bundesrat vertritt keine harte Verhandlungsposition gegenüber der EU. Er räumt der EU mit seinem Vorgehen in der Tat eine Art «Veto-Recht» ein, wie es die SVP beschreibt. Die EU-Kommissare wissen bereits, dass sie sich querstellen können – die Schweiz muss das dann akzeptieren.
Wenn der Bundesrat die Zuwanderung wirklich beschränken wollte, müsste er überzeugender auftreten, er könnte sich auch Bündnispartner suchen, zum Beispiel Grossbritannien oder Dänemark, um Druck auf Brüssel auszuüben.
Das Problem liegt jedoch nicht beim Bundesrat, es liegt beim Verfassungstext, den das Volk am 9. Februar 2014 annahm. Dort steht, dass «gesamtwirtschaftliche Interessen» berücksichtigt werden müssen. Der Bundesrat interpretiert dies dahingehend, dass die bilateralen Verträge mit der EU gewahrt werden sollen – eine folgerichtige Auslegung. Zuerst verhandeln, dann gegebenenfalls ein Gesetz einführen, das die Zuwanderung drosselt, so lässt sich der Verfassungstext interpretieren.
Neue Abstimmung wahrscheinlich
Und falls es keine Einigung mit der EU gibt – wonach es von Anfang aussah und noch immer aussieht –, muss die Bevölkerung nochmals über eine entsprechende Vorlage abstimmen.
Wie geht es weiter mit der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative? Welche Position vertritt der Grenzgänger-Kanton Basel-Stadt? Lesen Sie mehr dazu in unserem Dossier.
Im Bundeshaus diskutiert man bereits darüber, wie diese Vorlage aussehen könnte. FDP-Vertreter stellten einen konkreten Vorschlag zur Diskussion, der sich nur noch auf Familiennachzug und Einschränkung der Sozialhilfe bezieht; EU-inkompatible Kontingente und der Inländervorrang hingegen wären gestrichen.
Auch andere Parteien wollen neu abstimmen lassen. «Nur das Schweizer Stimmvolk kann letztlich das Verhältnis zu Europa klären», schreibt die BDP in ihrer Vernehmlassungsantwort.
Die radikalste Antwort liefert die Rasa-Initiative («Raus aus der Sackgasse»), die den Verfassungsartikel 121a der MEI komplett streichen will. Die Initianten sprechen von 38’000 Unterschriften, die sie in vier Monaten bereits gesammelt hätten. Eine Abstimmung über die MEI und das Verhältnis zu Europa ist also sehr wahrscheinlich.
Möglich, dass die Diskussion noch weiter geht. Die SP nimmt das Wort «EU-Beitritt» seit Neuestem wieder in den Mund. In der Antwort zur Vernehmlassung heisst es, man müsse «ergebnisoffen alle europapolitischen Optionen ohne Tabu prüfen, auch die Option EU-Beitritt, welche unserem Land das grösstmögliche Mass an Mitbestimmung und Souveränität in der europäischen Entwicklung geben würde».
Weiterlesen
- «Alle gegen die SVP», NZZ, 27.5.2015
- «Bundesrat erntet heftige Kritik für seine EU-Klausel», Berner Zeitung, 27.5.2015
- «EU bleibt gegenüber der Schweiz hart», Tages-Anzeiger, 30.4.2015
- «Basel ist wegen der Umsetzung der Einwanderungsinitiative in Alarmbereitschaft», TagesWoche, 9.1.2015
- «Was sagt die EU zur Umsetzung der Einwanderungs-Initiative», TagesWoche, 19.1.2015