Die Chance auf einen zusätzlichen Sitz im Nationalrat führt zu einem grossen Konkurrenzkampf in der SP. In der Poleposition sind Sarah Wyss und Mustafa Atici. Beide kämpfen verbissen um ihre Wahl.
Mustafa Atici mag nicht länger warten. Die Zeit sei reif für ihn, sagt er. Bei vielen Politikern hört sich dieser Satz wie eine Floskel an. Nicht bei Atici, der nur darauf zu warten scheint, endlich losgelassen zu werden: Es ist unübersehbar, dass er es am 18. Oktober unbedingt schaffen will. Zum dritten Mal kandidiert der 46-jährige Sozialdemokrat für den Nationalrat – noch nie standen seine Chancen so gut wie dieses Mal.
Mustafa Atici wusste schon immer, wo er hingehört. Als er mit 23 Jahren aus der Türkei in die Schweiz gekommen war, war für ihn klar, dass er eines Tages in diesem Land Politik machen wird. «Ich bin kein Mensch, der einfach untätig zuschauen kann», sagt er. Nur zwei Tage nach seiner Einbürgerung 2001 trat er der SP bei, 2004 wurde er in den Grossen Rat gewählt. Seine Schwerpunkte dort: Frühförderung, Chancengleichheit und bessere Rahmenbedingungen für KMU. Ob er bei den Parlamentswahlen erneut kandidieren wird, lässt er offen: «Ich kann noch nicht sagen, ob ich 2016 nochmals für den Grossen Rat antreten werde – dazu ist es zu früh.»
Im Moment erfordern die Ambitionen für den Nationalrat Aticis ganze Aufmerksamkeit. «Ein Nationalratssitz ist der nächste logische Schritt in meiner politischen Karriere. Ich möchte den vielen Migrantinnnen und Migranten in Basel und natürlich in der Schweiz in Bern eine Stimme geben.» Dazu fühle er sich verpflichtet, sagt Atici, der es nicht mag, wenn er als «Vorzeigemigrant» bezeichnet wird. Es habe schliesslich 23 Jahre gedauert, bis er so weit gekommen sei. «Und ich habe eine andere Geschichte als viele Migranten. Ich stamme aus einer Händlerfamilie und konnte in Istanbul eines der besten Gymnasien besuchen.» Atici gilt als tüchtig, ist bestens vernetzt. Ob bei den Gewerblern oder bei den Kurden: Überall ist er dabei. In der kurdischen Community wird er allerdings zuweilen als zu wenig links wahrgenommen.
Zwei fleissige Schaffer
Die Mission von Rot-Grün ist es, den 2011 an den CVP-Mann Markus Lehmann verlorenen Nationalratssitz zurückzuholen. Neben dem Grünen Bündnis präsentiert auch die SP mit den Bisherigen Silvia Schenker, Beat Jans und den drei Anwärtern Kerstin Wenk, Sarah Wyss und Mustafa Atici eine starke Liste. Die beiden Bisherigen Beat Jans und Silvia Schenker dürften ihre Sitze problemlos verteidigen. Die durchaus gute Aussicht auf ein zusätzliches Mandat macht bei der SP den internen Wahlkampf äusserst spannend. Es ist ein Showdown zwischen Mustafa Atici und Sarah Wyss.
Beide haben sich politisch in die Mitte ihrer Partei bewegt und sind nicht mehr eindeutig einem Flügel zuzuordnen. Atici, Unternehmensberater und Kebabstand-Besitzer im Joggeli, geniesst in der SP grossen Rückhalt. Man vertraut ihm. Seit 2001 hat er sich diskret hochgearbeitet und sich innerhalb der Partei eine breite Machtbasis erarbeitet. Mittlerweile ist Atici Vizepräsident der SP.
Sarah Wyss ist da anders. Quasi über Nacht in der SP aufgetaucht, verursachte sie als Juso-Präsidentin viel Krach und schaffte 2012 den Sprung in den Grossen Rat. Beide sind fleissige Schaffer, beide voller Tatendrang, beide in der Partei beliebt.
Sarah Wyss will Mustafa Atici nicht als ihren direkten Konkurrenten bezeichnen. Umgekehrt ebenso wenig. Solche Sachen sagt man zum Wohle der Partei nicht öffentlich. Das hat auch Wyss inzwischen gelernt. Sie formuliert es lieber so: «Natürlich geht es um viel. Einerseits, weil wir alle wollen, dass der Sitz zurück an Rot-Grün geht – und andererseits, weil wir alle selber in den Nationalrat möchten.»
Anspannung bei Wyss
Die 27-Jährige wirkt angeschlagen vom Wahlkampf, ist nervös. Während Atici in Ruhe mobilisiert (er gilt als hervorragender Verkäufer), rennt Wyss fast schon hysterisch durch die Gegend. Die Spielregeln sind neu für sie: Anders als bei Atici ist es ihre erste Nationalratskandidatur für die SP. «Ich bin schon angespannt. Die SP soll den dritten Sitz unbedingt zurückholen und ich würde diesen gerne machen.»
Es sei zwingend nötig, dass «auch die jüngere Generation im Zeitalter der Globalisierung» in Bern vertreten sei und die Zukunft mitgestalten kann. «Denn jung bedeutet nicht unerfahren», sagt Wyss, die vor Kurzem den Master in European Studies gemacht hat.
Eine Karriere in Bern steht schon seit Längerem auf der Wunschliste der SP-Frau. Wyss hat unmittelbar nach ihrer Wahl in den Grossen Rat angefangen, auf eine Nationalratskandidatur hinzuarbeiten, ihren Stil verändert und ihr Auftreten: von laut zu leise, von tendenziös zu seriös, von unüberlegt zu abgeklärt. Früher belächelt, wird sie mittlerweile ernst genommen.
Wyss ist gefährlich geworden für Atici. Die Partei hat die Konkurrenz zwischen den Kandidaten aktiv gefördert. In der ersten Phase des Wahlkampfs galt das Prinzip: jeder gegen jeden. Wyss wie Atici und auch die nicht zu unterschätzende Kandidatin Kerstin Wenk sollten so viele eigene Anhänger wie möglich mobilisieren. Dadurch erhofft man sich ein besseres Abschneiden am 18. Oktober. Intern hat das Vorgehen Befürchtungen geweckt, es würde später schwierig werden, die Gräben wieder zuzuschütten. Ein dritter Sitz für die Partei würde die Versöhnung einfacher machen.