Die 1930er-Jahren waren übel. Zahlreiche linke Gewissheiten zerbröselten. Die «Europäischen Hefte» boten kritischen Geistern Orientierungshilfe.
Am 30. Januar 1933 berief Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Einmal an der Macht, zerschlugen die Nazi die Organisationen der Arbeiterbewegung und die demokratischen Institutionen der Weimarer Republik.
Damit nicht genug. In der UdSSR konsolidierte drei Jahre später Josef Stalin mit den Moskauer Prozessen seine Macht im Rahmen einer Diktatur der Bürokratie. Zur gleichen Zeit entbrannte in Spanien ein blutiger Bürgerkrieg, in dem sich Anarchisten und unabhängige Linke in einem Mehrfrontenkrieg gegen Franquisten und Stalinisten wiederfanden. Der Wahlsieg der Volksfront in Frankreich im selben Jahr weckte zunächst grosse Hoffnungen, lange hielten auch sie nicht an. Die 1930er-Jahre waren eine üble Zeit – insbesondere für Menschen, deren Herz für die die Linke schlug.
Drei unterschiedliche Kommunisten
Zeitschriften wie die von Willi Schlamm (1904–1978)herausgegebenen «Europäischen Hefte» wollten kritische Geister ansprechen und ihnen helfen sich zu orientieren. Schlamm, zeitweise Redaktor der Zeitung der Kommunistischen Partei Österreichs, war 1929 als «Rechtsabweichler» aus der Partei ausgeschlossen worden, hatte für die Zeitschrift «Die Weltbühne» gearbeitet und schliesslich 1934 in Prag die «Europäischen Hefte» lanciert. Die Nummer vom 1. Februar 1935, deren Cover diese Zeitmaschine in Erinnerung ruft, thematisierte unter anderem den Prozess gegen den ungarischen Kommunisten Matyas Rakosi (1892–1971) und ein Vorspiel zu den Moskauer Prozessen von 1936, in dem auch Leo Trotzki, wenn auch in Abwesenheit, angeklagt war.
Titelseite der Ausgabe vom 1. Februar 1935: Bohrende Fragen und Prozesse.
Politische Abrechnungen
Bei Rakosi handelte es sich um einen Exponenten der ungarischen Räterepublik von 1919. Nach deren Zerschlagung gelang ihm die Flucht in die UdSSR. Bei seiner Rückkehr nach Ungarn im Jahr 1924 wurde er verhaftet und 1935 vor Gericht gestellt. In dem gegen Rakosi inszenierten Prozess sah ein Kommentar der «Europäischen Hefte» das Bestreben des neuen rechtsradikalen Premiers Gyula Gömbös, seinen Ruf als «Kommunistenfresser» zu festigen.
Ein ominöser «Konsul»
Mit Leo Trotzki kam in den «Europäischen Heften» ein, wenn auch umstrittenes und teilweise gar verfemtes, politisches Schwergewicht zu Wort. Der einstige Volkskommissar und Gründer der Roten Armee war als Gegner Stalins 1927 politisch kaltgestellt und 1929 aus der UdSSR verbannt worden. Im Text «Der ‹Konsul› und ich» bezog sich Trotzki auf den Prozess gegen den Mörder des Leningrader Parteisekretärs Sergei Kirow. In diesem Verfahren war angedeutet worden, dass ein nicht namentlich genannter «Konsul» den Attentäter ermuntert habe, mit Trotzki brieflich in Kontakt zu treten. In Trotzkis Augen ein stümperhafter Versuch, ihn und seine Anhänger in die Nähe von Terroristen zu rücken.
Bruch und Kontinuität
Solche Unterstellungen sollten nur ein kleiner Vorgeschmack auf die unglaublichen «Enthüllungen» der Moskauer Prozesse geben, die in den Anschuldigungen gipfelten, langjährige Weggefährten Lenins und der «Erzschuft» Trotzki hätten mit Unterstützung der deutschen Gestapo Stalin ermorden und die Sowjetmacht zerstören wollen. Anschuldigungen, die jeglicher Grundlage entbehrten. Einige Zeitgenossen konnten sich dieser Einsicht nicht verschliessen und brachen endgültig mit dem Sowjetkommunismus. Bei Willi Schlamm wurde aus dem Bruch schliesslich eine Abkehr von sämtlichen linken Ideen. Im amerikanischen Exil wandelte er sich zum Neokonservativen und Bewunderer des Kommunistenfressers Joseph McCarthy.
1959 kehrte Schlamm nach Europa zurück und verfocht als Buchautor und Kolumnist führender westdeutscher Blätter wie «Stern» und «Welt am Sonntag» einen militanten Antikommunismus. Schlamm starb am 1. September 1978 in Salzburg.
Leo Trotzki blieb seinen Überzeugungen treu. Unerschrocken hielt er an seiner Kritik der Politik Stalins und der Kommunistischen Internationale fest und versuchte, eine neue Internationale aufzubauen. Am 20. August 1940 wurde er im mexikanischen Exil von einem Agenten Stalins ermordet.
Matyas Rakosi kam 1940 frei und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Generalsekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen und ungarischer Ministerpräsident. 1956 wurde er aus dem Amt gedrängt und floh erneut in die UdSSR, wo er 1971 starb.
Quellen
– Zu Willi Schlamm:
Alexander Gallus: Der Amüsanteste unter den Renegaten – William Schlamms Wandlungen vom Kommunisten zum Konservativen, in Michael Hochgeschwender (Hrsg.): Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit. Bonn 2011, S. 52–73
Susanne Peters: William S. Schlamm. Ideologischer Grenzgänger im 20. Jahrhundert. Berlin 2013
– Ein Zeitzeuge zu den Moskauer Prozessen:
Victor Serge: