Die Ausnahme wird in Frankreich die Regel: Das Parlament verlängert das verfassungsrechtliche Notregime um sechs Monate. Der Entscheid stand unter dem Eindruck des Attentats von Nizza – und der anstehenden Präsidentschaftswahlen.
Die Abstimmung in der Nationalversammlung fand am Mittwoch erst um fünf Uhr in der Früh statt, doch die Ränge waren noch dicht besetzt. 489 Abgeordnete stimmten für die Verlängerung des Ausnahmezustandes um ein halbes Jahr bis im Januar 2017; nur 26 votierten dagegen.
So klar das Resultat ausfiel, so umkämpft war die siebenstündige Debatte. Nach dem Lastwagen-Attentat von Nizza (84 Tote und 300 Verletzte) und vor den «Primärwahlen» im Herbst im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen von 2017 ist die politische Stimmung in Frankreich geladen. Premierminister Manuel Valls wurde am Montag in Nizza von der Trauergemeinde gnadenlos ausgebuht; auch am Mittwoch hagelte es an der Côte d’Azur noch Vorwürfe, die Behörden hätten die Strandpromenade nicht genug abgeschottet.
Vorgeschlagen wurde eine Verlängerung um ein ganzes Jahr
Die konservativen Republikaner stehen ihrerseits unter Druck von rechts, wo der Front National Maximalforderungen erhebt: Seine Präsidentin Marine Le Pen verlangt die Schliessung radikaler Moscheen und die Internierung von Salafisten auf blossen Terrorverdacht hin. Republikanerchef Nicolas Sarkozy will den Polizeipräfekten ebenfalls die Möglichkeit einräumen, alle salafistische Moscheen «sofort zu schliessen». Am Fernsehen erklärte er, Frankreich stehe im «totalen Krieg».
Valls reagierte im Parlament mit der Bemerkung: «Die Populisten gehen um.» Zugleich zeigte er sich bereit, den Ende 2015 eingeführten Ausnahmezustand nicht nur um drei Monate zu verlängern, wie es Präsident François Hollande vorgeschlagen hat, sondern gleich um ein halbes Jahr, wie es die Rechte verlangte. Einige Republikaner wollten das Notrecht sogar um ein Jahr ausweiten, um gleich auch noch die Präsidentschaftswahlen von Mai 2017 abzudecken.
Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem Entscheid
In der Sache beschloss die Nationalversammlung, wieder Hausdurchsuchungen ohne Justizbefehl zuzulassen. Sie waren im Mai suspendiert worden. Im verlängerten Ausnahmerecht erhält die Polizei zudem neu die Befugnis, Computer und Telefone von Bürgern ohne richterliche Anweisung zu beschlagnahmen.
Der Entscheid der Nationalversammlung muss noch von der zweiten Kammer, dem Senat, bestätigt werden. Sie tritt am Mittwochabend zusammen, doch kann sie den Entscheid der Nationalversammlung nicht umstossen. Diese dürfte am Freitag endgültig entscheiden; angesichts der ersten Abstimmung steht das Resultat allerdings ausser Frage. Nur Grüne und Kommunisten lehnten die langfristige Einschränkung der Freiheitsrechte grundsätzlich ab.
Die französische Bevölkerung ist laut Umfragen nicht überraschend zu 85 Prozent für die Verlängerung des Ausnahmerechts. Die zwei linken Rechtsprofessoren Marie-Laure Basilien-Gainche und Dominique Rousseau befürchten hingegen, dass «ein Polizeistaat eingerichtet» werde. Der bekannte Islamologe Gilles Kepel erklärte, die Parteien hätten bei der politischen Aufarbeitung der Anschläge kläglich versagt. Gefragt sei keine Polemik um zusätzliche Polizeimittel, sondern die Mobilisierung der gesamten Gesellschaft.
Mindestens ein Attentat verhindert
Der Sicherheitsexperte Alain Bauer sagte, der Ausnahmezustand sei in einer ersten Phase sicher «sehr nützlich gewesen». Er habe mindestens ein Attentat verhindert: Mit der Verhaftung von Reda Kriket im Pariser Vorort Argenteuil im März dieses Jahres seien weit fortgeschrittene Anschlagspläne vereitelt worden. Heute erweise sich das verfassungsrechtliche Notdispositiv aber als «schleppend», meint der bekannteste Sicherheitsberater Frankreichs, der schon Minister wie Sarkozy und Valls gedient und auch die Polizei von New York und Los Angeles berät.
Polizeiliche Übergriffe wegen des Ausnahmezustandes seien bisher selten gewesen; normalerweise habe das Innenministerium sehr präzise Dossiers, bevor es einen Einsatzbefehl gegen radikalisierte Islamisten gebe. Auch greife die Justizkontrolle bereits wieder, meint Bauer; das zeige das jüngste Urteil eines Gerichts in Nîmes, das dem französischen Staat eine Teilverantwortung am Tod eines Terroropfers des Jahres 2012 überwiesen habe – weil der Attentäter Mohammed Merah vom Geheimdienst nicht genügend überwacht worden sei.
Für allzu statisch hält der 54-jährige Kriminologe die Operation Sentinelle. Sie mobilisiert über 10’000 Soldaten für Militärpatrouillen an neuralgischen Orten wie Bahnhöfen oder Kultusstätten. Am Anfang habe diese Mission der verstörten Bevölkerung Halt gegeben, ist Bauer überzeugt: «Doch der Terrorismus entwickelt sich laufend weiter. Das ganze Landesgebiet abzudecken, erlaubt es nicht, genügend agil zu bleiben. Die Polizei- und Militärkräfte müssten viel mobiler sein.»