Vor den geplanten Wahlen in den Regionen Donezk und Luhansk steigt die Spannung. Ein neuer Krieg liegt in der Luft. Der Pariser Vierer-Gipfel soll den Minsker Friedensprozess retten. Doch einfach wird das nicht, denn der russische Präsident Putin reist mit breiter Brust an.
Ein Gespenst geht um in der Ukraine. Seit Tagen geistert die Angst durch das Land, Russland könnte sich mit dem Westen in der Syrien-Krise einigen – und darüber den schwelenden Krieg in der Ukraine vergessen.
Wie real der Spuk ist, zeigte sich am Montag, als sich Kremlchef Wladimir Putin in New York erstmals seit zwei Jahren mit Barack Obama traf. Der US-Präsident beharrte zwar darauf, die Ukraine zu thematisieren. Im Zentrum der Gespräche standen aber mögliche Strategien im Nahen Osten und der Kampf gegen den IS-Terror.
Dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bleibt in dieser Situation nichts anderes übrig, als der Welt wieder und wieder seine Sicht der Dinge in Erinnerung zu rufen. «Die Syrien-Frage ändert nichts an der Ukraine-Frage», erklärt Poroschenko geradezu gebetsmühlenartig, so auch vor den Vereinten Nationen, noch bevor Obama und Putin die New Yorker Bühne betraten.
Richtig ist: In der osteuropäischen Wirklichkeit glimmt die Lunte am Pulverfass Ukraine unvermindert weiter. Schlimmer noch: Die Explosionsgefahr im Donbass steigt wieder.
Der Westen ist bereit zu Kompromissen
Wie angespannt die Lage ist, machte Poroschenkos Auftritt in New York deutlich. «Die Durchführung von Pseudowahlen in den Regionen Donezk und Luhansk würde den gesamten Minsker Friedensprozess gefährden. Wir werden alles tun, um solche Abstimmungen zu verhindern», kündigte er an. Das Wort «alles» liess sich nur so verstehen, dass die ukrainische Armee im Ernstfall die Waffenruhe einseitig beenden würde, die seit dem 1. September im abtrünnigen Donbass gilt und bislang weitgehend eingehalten wird. Das aber hiesse erneut: Krieg.
In diesem Fall wäre das Minsker Abkommen zwischen den moskautreuen Separatisten in der Ostukraine und der Regierung in Kiew endgültig «tot». Der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko, der beim Vertragsschluss im Februar Pate gestanden hatte, warnte vor den UN: «Das wäre ein Schritt auf dem Weg zu einem neuen Weltkrieg.» Und auch Obama wies Putin im direkten Gespräch darauf hin, wie wenig Zeit in der Ukraine bleibe. Die Minsker Vereinbarung, auf der alle Friedenshoffnungen ruhen, läuft nur noch bis zum Jahresende (siehe Kasten).
Das ist der dramatische Hintergrund, vor dem sich am Freitag in Paris das sogenannte Normandie-Quartett zu neuen Ukraine-Gesprächen trifft. Neben Putin und Poroschenko sitzen Gastgeber François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit am Tisch. Der russische Präsident, darin sind sich die meisten Beobachter einig, kommt mit breiter Brust in die französische Hauptstadt. Stefan Meister, Russland- und Ukraine-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, sagt, im Angesicht des Syrien-Krieges, des IS-Terrors und der Flüchtlingstragödie sei «die Kompromissbereitschaft im Westen derzeit gross, ohne dass sich Putin bewegen müsste».
Poroschenko hofft auf Merkel
Tatsächlich ist kaum zu übersehen, dass die Unterstützung für Poroschenko im Westen schwindet. Es war ja nicht nur der deutsche Vize-Kanzler Sigmar Gabriel, der Ende vergangener Woche vorschlug, die Russland-Sanktionen auf den Prüfstand zu stellen. Der französische Präsident Hollande hatte bereits vor Wochen eine Abmilderung der Strafmassnahmen, die der Westen nach der Annexion der Krim gegen Russland verhängt hatte, ins Gespräch gebracht.
Obama versicherte in New York zwar, eine Aufhebung der Sanktionen könne es nicht ohne Gegenleistung geben: «Andernfalls könnte sich das, was in der Ukraine passiert ist, in jedem beliebigen Land wiederholen.» Derzeit scheint es aber Angela Merkel zu sein, auf die Poroschenko seine grössten Hoffnungen setzt. Die Bundeskanzlerin, eine bekennende Putin-Skeptikerin, habe ihm bei einem Treffen in New York in die Hand versprochen, die von den Separatisten geplanten Wahlen in der Ostukraine nicht hinzunehmen, berichtete der ukrainische Präsident später.
Die Wunden bleiben offen
Beim Pariser Gipfel dürfte diese Frage zum Lackmustest für die Kompromissbereitschaft der Konfliktparteien werden, insbesondere für den Friedenswillen Wladimir Putins. Wird der Kremlchef die Separatisten stoppen, die am 18. Oktober und 1. November in den abtrünnigen, von ihnen militärisch kontrollierten Regionen Donezk und Luhansk wählen lassen wollen? Und wenn ja: Werden es die moskautreuen Kämpfer zulassen, dass in «ihren» Gebieten stattdessen am 25. Oktober nach ukrainischem Recht und unter OSZE-Beobachtung gewählt wird, wenn zeitgleich landesweit Kommunalwahlen stattfinden?
Letzteres wäre ein Signal dafür, dass der separatistische Donbass mit Zustimmung Putins ein Teil der Ukraine bleiben könnte – anders als die annektierte Krim. Stefan Meister hält das für unwahrscheinlich. «Die Wunden im Osten sind und bleiben offen. Selbst die Eroberung eines Landkorridors zwischen dem Donbass und der annektierten Krim durch die Separatisten bleibt eine Option», sagt der Experte. Zugleich sei es «durchaus denkbar, dass der Westen bei Wahlen im Osten bei den demokratischen Standards ein Auge zudrückt.»
Ein positives Wahl-Szenario ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil die Regierung in Kiew ihrerseits die Minsker Vereinbarungen noch nicht erfüllt hat. Das Versprechen, den ostukrainischen Regionen mehr Autonomie zu gewähren, harrt noch immer der Umsetzung. Das Parlament hat die nötigen Verfassungsänderungen zwar in erster Lesung verabschiedet. Nach gewaltsamen Protesten ultranationalistischer Aktivisten mit drei Toten wurde das weitere Verfahren aber auf Dezember verschoben. Putins kühler Kommentar: «Das ist eine Provokation.»
Als Abkommen von Minsk oder kurz «Minsk II» wird ein Vertrag zwischen der Regierung in Kiew und den Separatisten in der Ostukraine vom Februar 2015 bezeichnet, den auch Russland und die OSZE unterzeichnet haben. An den Verhandlungen waren Frankreichs Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel beteiligt, die zusammen mit Kremlchef Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko das sogenannte Normandie-Quartett bilden. Dort, im Norden Frankreichs, hatten sich die vier im Juni 2014 erstmals zu Ukraine-Gesprächen getroffen.
«Minsk II» sieht eine Waffenruhe in der Ostukraine, den Abzug schwerer Artillerie, die Einrichtung einer Pufferzone, Kontrollen an der Grenze zu Russland, einen Gefangenenaustausch sowie Wahlen und mehr Autonomie in den Gebieten Donezk und Luhansk vor – alles unter OSZE-Beobachtung. Das Abkommen, dessen weniger detaillierter Vorläufer «Minsk I» vom September 2014 nie eingehalten wurde, läuft bis Ende 2015. Eine Verlängerung ist möglich.