«Pussy Riot sind einfältige Mädchen»

Dmitry Krymov bringt den «Tod einer Giraffe» auf die Bühne der Basler Kaserne. Der progressive Regisseur erläutert seine Vorstellung des modernen Theaters, spricht über die künstlerischen Freiheiten in Russland und über den Politaktivismus von Pussy Riot.

«Eigentlich hasse ich die Wirklichkeit», sagt Theaterregisseur Dmitry Krymov. (Bild: zVg)

Dmitry Krymov bringt den «Tod einer Giraffe» auf die Bühne der Basler Kaserne. Der progressive Regisseur erläutert seine Vorstellung des modernen Theaters, spricht über die künstlerischen Freiheiten in Russland und über den Politaktivismus von Pussy Riot.

Dmitry Krymov bildet in Moskau an der Russischen Akademie der Theaterkünste BühnenbildnerInnen aus. Als Regisseur regt Krymov seine Truppe an, sich der Bühnenwirklichkeit wie ein bildender Künstler zu nähern – mit dem Unterschied, dass er die Ateliers der Künstler in einen  Zuschauerraum verlegt, in den öffentlichen Raum. Alles, was der Künstler macht, wird dadurch von öffentlichem Interesse, trägt eine öffentliche Verantwortung. Krymov sucht seine Räume aber nicht nur in der Wirklichkeit. Er sucht die Räume in den Biografien der Beteiligten, den Assoziationen der SchauspielerInnen, den Zufällen ihrer Begegnungen.

Herr Krymov, sind «Pussy Riot» in Ihren Augen Künstlerinnen im öffentlichen Raum?

Sie sind politische Aktivistinnen – und einfältige Mädchen. Ich setze meine Unterschrift unter den Aufruf, sie frei zu lassen, weil sie auf etwas aufmerksam machen wollten: Die Kirche ist in Russland keine gute Kraft. Sie ist geradezu gefährlich. Aber Pussy Riot suchen die Aufmerksamkeit mehr für sich als für die politische Provokation. Sie haben mit ihrem Auftritt nichts für die Musik getan …

Kennen Sie ihre Musik?

Musik? Sie haben die Menschen nicht eingeladen, an ihrer Suche teilzunehmen. Ich lade die Menschen zur Suche ein. Ich bin immer wieder sehr ängstlich, ob es sie interessieren wird. Und sehr glücklich, wenn sie es tun.

Sie haben bereits zu Zeiten Gorbatschovs erfolgreich als Bühnenbildner gearbeitet. Jetzt leiten Sie ein Theater. Was hat sich seit dem Mauerfall verändert?

Alles.

In der Kunst?

Viel. Wir haben viele neue Theater. Wir haben in diesen Jahren Freiheiten geniessen können, die wir vorher nicht kannten, mehr Erfahrungen nutzen und mehr experimentieren können. Russland hat eine sehr reiche Theater-Tradition. Wir sind also reichlich beschenkt von der Vergangenheit. Moskau ist das Zentrum dieser Traditionen.

Kann man bei dieser rasanten Entwicklung noch von Tradition reden?

Wir sind in einer schwierigen Richtung unterwegs. Die Symptome sind erschreckend. Es sind vielleicht die Vorboten eines Tsunami …

Das klingt nach einer grossen Umwälzung.

Es ist schwer zu sagen, wie rasch die Entwicklung sein wird. Vielleicht werden die Ereignisse uns sehr rasch wieder zurückwerfen. Die Verteilung der Mittel wird zur Zeit neu organisiert. Noch geniessen wir die Freiheiten. Auch die Freiheit zu experimentieren. Meine ersten drei Produktionen habe ich nur mit Bühnenbildnern gemacht. Das war bis dahin undenkbar.

Theater ohne Schauspieler?

Sie wurden in der Arbeit zu solchen. Im Westen würde man sie vielleicht «Performer» nennen. Sie haben ihre Arbeiten entstehen und das Publikum daran teilhaben lassen.

War das eine bewusste Wahl zur Zeit des Wiederaufbaus?

Wir sind eigentlich seit Jahrzehnten im Wiederaufbau. Das war in meinen Anfängen als Dozent der Bühnenbildnerklasse in Moskau so. Das ist jetzt so. Das bewirkt auch immer neue Hierarchien im Schaffensprozess.   

Zum Beispiel richten Sie sich bei ihrer Arbeit nicht nach einem Text aus. Der Text ist also nicht mehr die Leitlinie. Gibt es keine Geschichten mehr?

Doch. Aber zu Beginn hatten die Schauspieler tatsächlich keine Texte. Die «Giraffe» ist nur mit Schauspielern entstanden. Ich habe die Schauspieler eingeladen, zu sprechen, über sich zu erzählen, ihre Räume zu erfinden. Dadurch sind die Geschichten entstanden. Das war ein langer Prozess. Über Monate.

Lässt sich das als Stil beschreiben?

Ich kann meinen Stil nicht beschreiben. Ich fühle mich der Denkweise von Peter Brook sehr verwandt. Aber ich weiss nicht, ob das einen Stil beschreibt. Ich bin auf der Suche nach der Wahrnehmung der Schauspieler. Sie haben Hochinteressantes von sich zu erzählen. Wir haben das aufgezeichnet und daraus im zweiten Schritt die Vorstellung entwickelt. Die Phantasie der Aufführung ist den Schauspielern geschuldet. Erst im dritten Schritt haben wir über den «Tod der Giraffe» die Metapher gefunden, die jetzt die Aufführung prägt: Etwas ist gestorben. Vielleicht ist es ein Akrobat. Wir sind an dessen Begräbnis. Jeder begräbt etwas anderes. Jeder ist in seinem eigenen Monolog gefangen. Jeder steht unter seinem Schock des Todes. Jeder spricht über sich, das Verstorbene, die Welt. Für jeden ist es etwas anderes, wichtiges. Das vereint die Phantasie der Beteiligten. Das macht die «Giraffe» zu einem Gruppenprojekt.

Ist das ihre Bestandesaufnahme der Jetzt-Zeit? Jeder ist beteiligt oder sollte sich beteiligt fühlen?

Am liebsten ist es mir, wenn auf der Probe alle Schauspieler gleichzeitig reden. Das ist ein Zeichen von grosser Lebhaftigkeit. Auch in der Wirklichkeit. Wenn alle gleichzeitig reden. Aber eigentlich hasse ich die Wirklichkeit. Stanislavykij, der grosse russische Schauspieler und Pädagoge, soll einem der bedeutendsten Schauspieler des Künstlertheaters, Katchalov, einmal verraten haben: «Ich mag die Menschen in der Wirklichkeit nicht. Ich kann Ihnen viel mehr über die Menschen auf der Bühne sagen, als über die Menschen in der Wirklichkeit. Ich mag das Leben nicht. Ich mag es nur auf der Bühne.»

Jetzt steht ihre Bühne in Basel. Wenn eine Giraffe im Theater stirbt, mag man an Dali denken. Aber eine Giraffe aus Russland?

Ich bin gespannt, wie die Menschen in Basel, die unsere Konflikte nicht kennen, unsere Phantasie deuten werden. Wie wird das mit einer Übersetzung ins Deutsche funktionieren? Wie werden sie all die Anspielungen auf die russische Wirklichkeit lesen, all die Bedeutungen in den Namen dechiffrieren? Sie werden vielleicht über Dinge, über die wir lachen nur lächeln. Ich bin sehr gespannt.

  • Dmitry Krymov Theaterlaboratorium: «Tod einer Giraffe». Russisch mit deutscher Live-Übersetzung. Donnerstag/Freitag (22./23.11.), Kaserne Basel (im Rahmen von Culturescapes Moskau).

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