Randständige führen durch ihr Basel

Der Verein Surprise lanciert drei «soziale Stadtrundgänge»: Drei von Armut Betroffene stellen jene Institutionen vor, die ihnen das Überleben am Rand der Gesellschaft möglich machen.

Drei Randständige zeigen auf den Suprise-Stadtrundgängen wie sie die Stadt erleben. (Bild: zVg)

Der Verein Surprise lanciert drei «soziale Stadtrundgänge»: Drei von Armut Betroffene stellen jene Institutionen vor, die ihnen das Überleben am Rand der Gesellschaft möglich machen.

«Hast du mir ein paar Franken für die Notschlafstelle?» Die Standardfrage von Obdachlosen am Bahnhof und Barfi kennt man zwar zur Genüge, doch wie siehts tatsächlich in der Notschlafstelle aus? Rolf Mauti, der seit vier Jahren auf der Strasse lebt, kennt die Einrichtung an der Alemannengasse aus eigener Erfahrung: «Die Betten sind sauber bezogen, die Betreuer freundlich. Doch schlafen konnte ich nie. Das Gerede der anderen, die Stimmung.» Noch schlimmer sei es einzig im Männerwohnheim der Heilsarmee an der Rheingasse – «das ist die Endstation, nachher kommt nur noch der Friedhof Hörnli», war Mauti bis vor einer Woche überzeugt. Doch inzwischen weiss er es besser: «Das Wohnheim bietet ein super Angebot.

Den Gesinnungswandel hat Mauti einem Projekt zu verdanken, an dem er federführend mitwirkt und das der Verein Surprise am Freitag den Medien vorstellte: Drei «soziale Stadtrundgänge» führen durch insgesamt zwei Dutzend Institutionen Basels, die sich um die Bedürfnisse Randständiger kümmern. Mauti, der vor seiner Zeit als Ausgesteuerter als Matrose, Monteur und Chemikant arbeitete, recherchierte die Angebote, Arbeitsweise und Geschichte der vorgestellten Einrichtungen – und erlebte, wie er seine Vorurteile gegenüber dem Männerheim revidieren musste. «Sogar Internet gibts, die Möglichkeit, seine Wäsche zu waschen – und dreimal täglich ein komplettes Menü.» Mauti hat nun vor, sich um ein Bett im Heilsarmee-Haus zu bewerben.

Stadtrundgang statt Plakate

Aha-Erlebnisse dieser Art sollen die sozialen Stadtrundgänge allerdings vor allem bei jenem Bevölkerungsteil auslösen, die überhaupt nicht von Armut betroffen sind. Laut einem Bericht der Christoph Merian Stiftung (CMS) hatten in Basel im Jahr 2006 7,6 Prozent der Haushalte oder 12’100 Personen zu wenig Geld, um ohne Sozialhilfe auf das Existenzminimum zu kommen. «Wir hatten eine ganze Kampagne entwickelt, um die Erkenntnisse des Berichts in die breite Bevölkerung zu tragen», erklärte Walter Brack, Leiter Soziales und Stadtentwicklung von der CMS, an der Medienkonferenz. Doch die Idee habe nicht überzeugt, man habe die Plakate in der Schublade versorgt und investiere das eingesparte Geld nun umso überzeugter in die sozialen Stadtrundgänge. Knapp 100’000 Franken liess sich die Stiftung das Erarbeiten und die Werbung für die Stadtrundgänge kosten. Brack: «Das Thema ist ein Kernanliegen der CMS. Eine Mehrheit der bei den Rundgängen vorgestellten Institutionen erhalten Beiträge von uns.»

Hemden gegen Gutscheine

Ein Beispiel aus der Kleinbasler-Tour ist die Gassenküche am Lindenberg, wo Bedürftige kostenlos ein Frühstück erhalten und sich am Abend mit einem kompletten Abendessen versorgen können – für symbolische drei Franken. Seit das Lokal mit den massiven Holztischen vor 25 Jahren eröffnete, hat sich die Klientel verändert: Erhielten damals Fixer ein warmes Essen, sind dort heute Armutsbetroffene aller Altersschichten anzutreffen, auch abgewiesene Asylsuchende und Alkoholabhängige. Auch 80-jährige Rentner, die nicht kochen können, verköstigen sich im günstigen Lokal. «Und seit Kurzem tauchen vermehrt Arbeitssuchende aus Osteuropa, Spanien und Portugal auf», so Brigitte Tschäppeler, Projektleiterin der Gassenküche.

Gleich schräg gegenüber bietet der Caritas-Kleiderladen Secondhand-Hosen, -Hemden und -Frotteetücher zum Schnäppchenpreis. Verschiedene Einrichtungen wie die Sozialhilfe verteilen Kleidergutscheine, die hier eingelöst werden können. Die Ware wird tagsüber gespendet oder nachts anonym in eine Klappe geworfen, gelegentlich liefern Grossverteiler unverkäufliche Textilien an. Was keine Abnehmer findet, wird sortiert und nach Osteuropa geschickt.

Denkanstoss für Schüler

«Die Rundgänge sollen Randständigen ein Gesicht geben und zeigen, dass auch im Basel von Pharma und Mäzenatentum durchaus Armut herrscht», sagt Paola Gallo, Geschäftsleiterin des Vereins Surprise. Unbedingt vermeiden wolle man aber Voyeurismus – «und das dürfte uns auch gelingen», so Gallo. Denn die drei Stadtführer, allesamt schon seit Jahren mit Armut konfrontiert, würden die vorgestellten Institutionen aus eigener Anschauung kennen und im Lauf der zweistündigen Stadtwanderung mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Beziehung aufbauen.

Nicht nur Einzelpersonen und Firmen sind willkommen, explizit bewirbt Surprise auch Schulen. Hans Georg Signer, Leiter Bildung im Erziehungsdepartement, war bei einem Proberundgang dabei und ist überzeugt davon, «dass eine solche Begegnung bei den Jugendlichen wichtige Prozesse in Gang bringen kann». Besuche eine Klasse einen solchen Stadtrundgang, sei dies ein idealer Ausgangspunkt, um Themen wie Glück, Leistung oder Armut im Unterricht zu diskutieren. Den Lehrerinnen und Lehrern will Signer das Angebot deshalb ab dem 7. Schuljahr empfehlen. Die Schweizer Premiere könnte übrigens schon in einem Jahr in Zürich geklont werden. Denn die Macherinnen und Macher schätzen die Nachfrage als hoch ein: In Stuttgart existiert ein ähnlicher Rundgang seit drei Jahren – monatlich wird er 80 Mal gebucht.

  • Die sozialen Stadtrundgänge (jeweils vormittags) können hier gebucht werden.
    Mindestens acht Personen, Kosten pro Erwachsener 15 Franken, Dauer zwei Stunden.

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