Die Demokratie ist viel mehr als eine Staats- oder Regierungsform. Sie ist eine Lebensform, die sich nur entwickeln kann, wenn sie alle Bereiche des Daseins durchdringt. Daran erinnern derzeit der Architekt Santiago Calatrava und der Autor Hansjörg Schneider.
Ob dem «zugewanderten» Kommissär Peter Hunkeler der spanische Architekt und «Baukünstler mit Schweizer Pass» («Tages-Anzeiger» vom 12. September 2015) Santiago Calatrava ein Begriff ist, scheint mir nirgends verbürgt zu sein. Doch da Hunkelers Schöpfer Hansjörg Schneider, wie wir aus der Tageswoche wissen, ein grosser Zeitungsleser ist, dürfen wir davon ausgehen, dass Hunkeler Calatrava nicht nur kennt, sondern sogar schätzt.
Wie viele andere dürfte Hunkeler bei seinem Blick von der Rheinschanze flussaufwärts immer noch bedauern, dass 1990 53 Prozent der damals stimmenden Baslerinnen und Basler Calatravas Entwurf für eine elegante neue Wettsteinbrücke auf den «Basler Friedhof der Visionen» («Basler Zeitung») verbannten und der «unechten Zukunft» (Ernst Bloch), das heisst der Verlängerung der kommunen Gegenwart, den Vorzug gaben, anstelle von Calatravas leichter, Herz und Geist beschwingenden Alternative.
Calatrava unterstreicht nun in einem seiner seltenen Interviews, wie sehr er – trotz der im Zürcher Blatt nicht thematisierten Basler Enttäuschung – die Demokratie schätzt. Er sagt sogar: «Meine Gebäude zelebrieren die Demokratie.» Wiederum unterlässt es der Interviewer nachzufragen, wie es denn um Calatravas ausgesprochen schwungvolle, filigrane Brückenbauten stehe. Verbinden sie doch zwei vermeintlich getrennte Ufer, ähnlich wie die demokratische Auseinandersetzung zwei Ansichten zusammenführt, die ohne Streit fruchtlos voneinander getrennt blieben.
Architektur spricht den Menschen an
Santiago Calatrava geht noch weiter und meint im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» ganz generell: «Baukunst ist eine demokratische Kunst.» Dabei gelingt ihm ein Beispiel, das uns erlaubt festzustellen, welche Baukünstler diesem Anspruch genügen und welche nicht. Calatrava: «Jemand steht in einem Bahnhof, hat zwölf Stunden gearbeitet und muss pendeln. In den zehn Minuten, die er wartet, sagt ihm die Architektur: Du bist wichtig, das hier ist für dich.»
Als einer, der schon viele Minuten seines Lebens wartend im von Calatrava erbauten Zürcher Bahnhof Stadelhofen verbracht hat und vor einigen Monaten selbst den mächtigen neuen Bahnhofbau in Lüttich bestaunen durfte, kann ich nur bestätigen: Die Message kommt an. Der Mensch wird durch die Architektur angesprochen; sie bringt ihm Respekt entgegen, erhebt ihn über das profane Dasein hinaus. Sie macht ihn nicht klein, erniedrigt ihn nicht, wie denjenigen, der den Mailänder Hauptbahnhof betritt – für mich ein Sinnbild faschistischer Architektur.
Mit seinem Bekenntnis zur Demokratie stellt sich der Baukünstler Calatrava in die leider von zu vielen vergessene Tradition des Rheinländer Philosophen Ernst Bloch (1885–1977). Dieser hatte in seinem erzwungenen US-Exil während der 1930er- und 1940er-Jahre die «Seelenlosigkeit» vieler Werke von weniger künstlerisch orientierten Architekten beklagt und die Baukunst als «Produktionsversuch menschlicher Heimat» verstanden.
Aus realer Demokratie wächst Heimat
Heimat nicht im reaktionär nostalgischen Sinn, sondern so, wie es Bloch unnachahmlich zum Schluss seines grossen Werkes «Das Prinzip Hoffnung» (geschrieben während des US-Aufenthaltes von 1938 bis 1947) formuliert hat: «Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.»
In dieser Heimat würde sich auch der rastlose Kommissär Hunkeler wohler fühlen. Denn ihm geht es durchaus um das, was Bloch unter der «realen Demokratie» versteht, keine «absolute» (Mosaik vom 11. September) mit der Allmacht weniger, sondern eine, in welcher der Mensch immer und überall Demokrat sein und Demokratie leben kann. In seinem neuen Fall, «Hunkelers Geheimnis», wird Hansjörg Schneider an zwei Orten diesbezüglich sehr deutlich. Einmal, in einer Betrachtung über Basel als «durch und durch urbane Stadt ohne Hinterland», deshalb eben doch wie ein Dorf funktionierend. Dort heisst es dann so nebenbei aber deutlich: «Dabei hat Rot-Grün eine Mehrheit in dieser Stadt und hätte die Macht, zu regieren. Aber sie regieren nicht, sie verwalten bloss.»
Etwas später lässt Hansjörg Schneider sogar «abdanken», was so gar nie war und folglich auch nicht abdanken kann: Basels Politik sei ein Witz, lässt er einen Beobachter sagen. Denn: «Die wichtigen Fragen werden von der chemischen Industrie entschieden, weil die alles bezahlt. Die Demokratie hat abgedankt, weil es in der Industrie keine Demokratie gibt.»
Werktags fehlende Demokratie akzeptieren, am Wochenende ein ordentlicher Demokrat sein. Das kann weder dem Mensch noch der Demokratie guttun.
In Blochs «realer Demokratie» gäbe es auch in der Industrie, wie überall, wo Menschen arbeiten, Demokratie. Die Menschen wären nicht zur Schizophrenie verdammt, werktags die fehlende Demokratie zu akzeptieren und am Wochenende dennoch ordentliche Demokraten sein zu sollen. Als ob einer dies auf die Dauer aushalten könnte. Weder dem Menschen noch der Demokratie kann dies guttun.
Die reale Demokratie muss erst noch werden; es gab sie noch nie. Die politische, unvollendete Demokratie ist nur wenig älter als Basels chemische Industrie. Sollte also politisch auch die unfertige Demokratie nicht existieren können, so lange sie nicht auch in der Chemischen zu Hause ist, dann hätte Basel noch gar nie eine Demokratie gehabt. Rot-grüne Regierungsmehrheiten hin oder her.
Neue Brücken bauen
Präziser und auch konstruktiver wäre die Frage, wie wir aus der halben, wochenendlichen oder feierabendlichen Demokratie zu einer vollständigeren kommen könnten. Reichen dazu traditionelle Mitbestimmungsrechte, Betriebsräte und Gesamtarbeitsverträge aus? Oder braucht es auch die Mitbestimmung über die Verwendung dessen, was aus den Erträgen für Löhne und neue Investitionen ausgegeben wird? Müssten die Erzeugerinnen und Erzeuger des Ertrags in einer realeren Demokratie nicht auch über die Höhe und Adressaten der letztem beiden mitreden können?
Der Bau von Brücken zu neuen Mosaiken der Demokratie steht uns erst bevor. Ihr Abbruch könnte erst passieren, wenn diese Versuche scheitern. Beginnen wir aber mit dem Ende statt mit dem Anfang, unterlassen wir auch den Versuch. Und wären dann tatsächlich gescheitert, bevor wir hätten erkennen können, dass es durchaus auch gelingen könnte.