In Europa wird vor einer Krise gewarnt, die «heute lebende Generationen noch nicht erlebt haben.» Und wer ist dafür verantwortlich? Die üblichen Verdächtigen aus dem Süden? Nein! Neuerdings mehren sich auch in Deutschland die Stimmen, welche die Schuld bei sich selbst suchen. Exklusiv für die TagesWoche schreibt UNO-Chefökonom Heiner Flassbeck, was sein Land tun muss, damit Europa doch noch gerettet werden kann.
Europa am Abgrund, Europa vor dem Untergang: Die nicht enden wollende Krise wird mit dramatischen Worten beschrieben. Das ist noch nichts Neues. Neu ist dagegen, dass die Krise in Deutschland nicht mehr nur als die Krise der anderen wahrgenommen wird – der Griechen, der Portugiesen, der Italiener. «Zwei Jahre lang konnte Deutschland so tun, als hätte es mit der Euro-Krise nur am Rande zu tun. Die Wirtschaft blühte, die Arbeitslosenzahlen sanken», stellt der Spiegel heute Montag in einem Kommentar fest: «Jetzt zeigen die neue Konjunkturschwäche und der Einbruch am Aktienmarkt: Deutschland ist sehr wohl verwundbar – und muss deshalb Opfer bringen.» Noch expliziter wird der ehemalige Grüne Aussenminister Joschka Fischer. «Deutschland ist einsam und isoliert. Wider alle historische Erfahrung hält Kanzlerin Merkel dogmatisch an einer Sparpolitik fest, die Europa an den Abgrund geführt hat», schreibt er in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung. Und weiter: «Wenn der Euro und mit ihm der zweitgrößte Wirtschaftsraum der Welt zerfällt, dann wird das eine Krise auslösen, wie sie die heute lebenden Generationen noch nicht erlebt haben.»
Doch welche Opfer soll Deutschland bringen? Und wie könnte Europa doch noch gerettet werden? Dazu hat ein weiterer Deutscher sehr genaue Vorstellungen: Heiner Flassbeck, Chefökonom bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung, Hier sein Gastbeitrag aus der TageWoche-Printausgabe vom Freitag.
Reden wir nicht mehr über Rettungsschirme!
In diesen Tagen kann man in Euroland wieder beobachten, dass Politiker selbst in Zeiten höchster Gefahr die seltsame Neigung haben, scharf am eigentlichen Thema vorbeizureden. In der Debatte um den Euro ist das allerdings extrem gefährlich, weil der Patient, die europäische Währung, mittlerweile ein kritisches Stadium erreicht hat und dringend der richtigen Therapie bedarf, um wieder gesunden zu können.
Redeten die Politiker aber vor dem Auftauchen des neuen französischen Präsidenten vor allem über Rettungsschirme und Sparmassnahmen, haben sie nun das Thema gewechselt und debattieren mit aller Heftigkeit die von François Hollande ins Spiel gebrachten Eurobonds und Wachstum. Sie tun das aber immer noch mit dem gleichen falschen Fokus wie vorher. Weil sich die Diagnose der Krankheit in den Augen der meisten EU-Politiker nicht geändert hat, führen sie mit tatkräftiger Unterstützung vieler Medien über Eurobonds und Wachstum eine ebenso sinnlose Diskussion wie bei den Rettungsschirmen und der Austerität vorher.
In der Tat, für den, der mit der Diagnose in die Debatte startet, die Regierungen hätten schlecht gewirtschaftet und die staatlichen Schulden einiger Länder im Süden seien der Kern des Europroblems, für den sind Eurobonds schlimmeres Teufelszeug als die diversen Rettungsschirme. Beide führen aus dieser Sicht nur dazu, dass laxe Regierungen, statt sich am Riemen zu reissen, bei nächster Gelegenheit wieder über die Stränge schlagen, weil sie die berechtigte Sanktion des Marktes in Form hoher Zinsen ja nicht mehr spüren. Eurobonds tun das nur viel konsequenter als die Rettungsschirme, weil sie schlechter mit den Sparkonditionen belegt werden können als die Inanspruchnahme eines Rettungsschirmes. Das ist die Weltsicht, die vor allem die Politiker unter der Berliner Käseglocke mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Gleichwohl ist der Ansatz vollkommen falsch. Ausserhalb der Käseglocke ist es mittlerweile zu einem Umdenken gekommen. Man hat in der internationalen Diskussion erkannt, dass das Kernproblem der Eurozone nicht die Staatshaushalte sind, sondern die Ungleichgewichte in der Wettbewerbsfähigkeit der Länder mit gemeinsamer Währung, die sich zu Beginn der Finanzkrise 2008 in hohen Leistungs- und Handelsbilanzsalden innerhalb der Währungsunion spiegelten.
Das dem zugrunde liegende Auseinanderlaufen der Lohnstückkosten und der Preise wurde zu einem erheblichen Teil von Deutschland verursacht, weil Deutschland systematisch unter seinen Verhältnissen, die südeuropäischen Länder aber über ihren Verhältnissen lebten. Beide verstiessen gegen das gemeinsam festgelegte Inflationsziel von zwei Prozent, die einen nach oben, Deutschland nach unten. Aber selbst Frankreich, das sich am besten ans Inflationsziel anpasste, muss mit einem grossen Verlust seiner Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland leben.
Programmierte Krise
Alle Erfahrungen aus den Währungskrisen der Vergangenheit zeigen, dass Länder mit gemeinsamer Währung oder festen Wechselkursen, die Lohnkostenunterschiede unter Berücksichtigung der Produktivitätsunterschiede (also Unterschiede in den Lohnstückkosten in gleicher Währung gerechnet) von 20 Prozent und mehr aufwiesen, nicht auf Dauer miteinander Handel treiben konnten, ohne dass diejenigen, die an Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten, in tiefgreifende Krisen gestürzt wurden. Diese Krisen wurden in der Regel durch eine Abwertung der Währung der Defizitländer und dadurch induziertes neues Wachstum bereinigt – und nicht durch konsequentes Sparen in der Krise, wie viele immer noch glauben.
Aus dieser Sicht stellen sich Eurobonds und Rettungsschirme ganz anders dar. Wenn Deutschland das Überleben des Euro will und damit gleichzeitig verhindern will, dass sich seine Wettbewerbsfähigkeit quasi über Nacht in einer Abwertung der aus dem Euroraum ausscheidenden Länder in Rauch auflöst, muss es so lange Unterstützung leisten, bis sich die Wettbewerbsverhältnisse normalisiert haben.
Stiegen in Deutschland von nun an die Nominallöhne konsequent um ein bis zwei Prozent oberhalb des deutschen Produktivitätsfortschrittes plus der Zwei-Prozent-Zielinflationsrate und in den südeuropäischen Ländern etwas darunter, kann man es schaffen, in zehn bis zwanzig Jahren die Lücke in der Wettbewerbsfähigkeit zu schliessen, weil Deutschland dann genügend an Wettbewerbsfähigkeit verloren haben würde, um den anderen die Rückkehr an die Kapitalmärkte zu ermöglichen.
Um diesen langen Zeitraum zu überbrücken, sind Eurobonds oder die Rettungsschirme ebenso wie eine konsequente Intervention der Europäischen Zentralbank sinnvolle Massnahmen, weil sie die Zinslast der Defizitländer reduzieren und die Rückkehr auf einen Wachstumspfad erheblich erleichtern. Leistungsbilanzdefizite wie -überschüsse können nur unter grossen Schmerzen, nämlich in einer tiefen Rezession, über Nacht verschwinden.
Wer das nicht will oder politisch für gefährlich hält, muss die Defizite so lange vonseiten der Überschussländer finanzieren, bis die Märkte ohne Übertreibungen wieder ihre Rolle bei der Kreditgewährung übernehmen. In einer Währungsunion dauert das sehr lange, wenn das Problem über einen sehr langen Zeitraum – wie das im Euroland der Fall ist – entstanden ist und eine Deflation vermieden werden soll. Insofern sind Eurobonds und all die anderen Massnahmen eine Brücke bis zur Erreichung des Zieles, nicht mehr und nicht weniger.
Wer jetzt völlig losgelöst von dem eigentlichen Problem die Bonds oder die Rettungsmassnahmen in Bausch und Bogen verdammt wie viele deutsche Politiker und Ökonomen, muss das Ziel verfehlen. Eine Brücke zu bauen ist allerdings nur sinnvoll, wenn man weiss, wo sie am Ende aufliegen kann. Den Brückenbau zu diskutieren, ohne das Ziel zu kennen, wie man das bei den meisten Sozialdemokraten und Grünen vermuten muss, ist ebenfalls verlorene Liebesmüh.
Sinnlose Grabenkämpfe
Wer jedoch so tut, als könne ein Land seine Wettbewerbsposition halten, die anderen ihre aber gleichzeitig verbessern, ist völlig auf dem Holzweg. Auch diejenigen, die glauben, die anderen könnten einfach ihren Gürtel enger schnallen wie eine schwäbische Hausfrau und schon würden die staatlichen Defizite sinken, sitzt einem Irrtum auf. Was wir derzeit erleben, ist nicht nur der drohende Untergang des Euro, sondern es ist auch der klar erkennbare Untergang des logischen Denkens in der Ökonomie. Dass Wettbewerbsfähigkeit immer ein relatives Konzept ist, bei dem der eine nur gewinnen kann, was der andere verliert, ist in den Grabenkämpfen um die richtige Ideologie genauso verlorengegangen wie die Tatsache, dass der Staat nicht sparen kann, ohne dass das über sinkendes Wachstum oder eine Verstärkung der Rezession negative Auswirkungen auf seine Einnahmen und auf seine Ausgaben hat.
Solche logischen Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen, überfordert aber anscheinend grosse Teile der Politik. Wie könnte man sonst die Besessenheit erklären, mit der ohne Rücksicht auf die politischen Folgen die «anderen» als unfähig oder unwillig beschimpft werden, das einzig Richtige zu tun und ihren Gürtel gefälligst enger zu schnallen. Nur die baldige Rückkehr der Vernunft kann den Euro und mit ihm den Frieden in Europa retten.
Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck (61) war von 1998 bis 1999 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Seit Januar 2003 ist er Chef-Volkswirt (Chief of Macroeconomics and Development) bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf. Im vergangenen November gab er der TagesWoche zum gleichen Thema das viel beachtete Interview Herr Flassbeck hat schlechte Neuigkeiten.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.06.12