Im Kampf um die Ostukraine geht es nicht nur um Geopolitik, sondern auch um Menschenrechte und Demokratie. Bei beidem schneidet Russland schlecht ab.
Russlands Präsident Wladimir Putin handelt und redet. In dieser Reihenfolge. Er schickt heimlich Waffen und Soldaten in die benachbarte Ukraine und nimmt dann dazu öffentlich Stellung. Dies geschieht in den verschiedensten Varianten, aber stets mit dem Ziel, den wahren Charakter der Intervention zu verschleiern.
Von diesen Aussagen kann man annehmen, dass sie die Gegenseite – die nach dem Westen orientierte Ukraine, die EU und die USA – an der Nase herumführen und die Weltöffentlichkeit täuschen sollen. Als ob dies im Zeitalter der Satellitenbilder möglich wäre. Die Täuschungsabsicht gilt in erster Linie der Bevölkerung des eigenen Landes.
Während Putin militärische Operationen massiv anheizt, liess er jüngst über die russische Nachrichtenagentur Itar Tass verbreiten, dass Gespräche über «die politische Organisation der Gesellschaft und die Staatlichkeit der Südostukraine» sofort beginnen sollten, um die «rechtmässigen Interessen der Menschen, die dort leben, zu schützen». Das ist bloss ein Ablenkungsmanöver, während die Geschichte von den «irrtümlich» oder «freiwillig» Krieg führenden Russen eine Lüge ist, denn so etwas wäre in dem überkontrollierten Land gar nicht möglich.
Es ist geradezu ein Witz, dass ein Staatschef, der sein eigenes Land diktatorisch im Griff hält, sich für regionale Autonomie in einem Nachbarland einsetzt. Unbeabsichtigt lenkt eine solche Propagandaparole jedoch auf die wichtigste Frage.
Innenpolitik – nicht Geopolitik
Für Putin mag die Geopolitik im Vordergrund stehen, und auch im Westen wird darin der wichtigste Punkt gesehen: zuerst Zugang zum Schwarzen Meer, dann über die Südostukraine als Landbrücke Zugang zur Krim. Wem dieses Land «gehören» soll, ist im Lichte der Geschichte vielleicht ein echter Diskussionspunkt.
Entscheidend ist aber, wie es den dieses Land bewohnenden Menschen geht. Schon im Falle der Krim-Annexion hätte man sagen können, dass es im Grunde egal sei, zu wem dieser Teil der Erde gehört, sofern die dort lebenden Menschen – alle Minderheiten eingeschlossen – in Freiheit leben können.
Es geht weniger um Geopolitik als um Innenpolitik beziehungsweise um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte. Und es geht nicht um den Punkt, ob Putin, der Mann Neurusslands und der Eurasischen Union, über die «Expansion des Nato-Westens» nachvollziehbar irritiert sein könnte, wie Putin-Versteher wenigstens bis vor Kurzem noch hervorheben wollten.
Der Kampf der Ukraine wird umso glaubwürdiger, je mehr sie von den rechtsextremen Kräften in ihren Reihen auf Distanz geht.
Auch wenn die Meldungen dazu rar geworden sind: Den Krim-Minderheiten, inbesondere den Tataren, geht es schlecht auf der Krim. Sie aber sind ein vielsagender Indikator für den gesellschaftlichen Zustand. Wenn es darum geht, ob man die weiteren Übergriffe auf die Ostukraine hinnehmen soll, kann man gewiss den Standpunkt einnehmen, dass die nationale Souveränität nicht verletzt und dass bestehende Staatsgrenzen respektiert werden sollen. Nicht weniger wichtig ist indessen, welcher Art von Regime die dort lebenden Menschen ausgesetzt sind.
Mag sein, dass in der Ostukraine Kräfte im Moment das Sagen haben, die sich gar nicht gross von den Kräften unterscheiden, für die Putin und sein Apparat stehen. Sicher gibt es da aber auch anders eingestellte Menschen.
Und wiederum andere gibt es gewiss auch in der westorientierten Ukraine. Das muss ebenfalls gesagt sein, dass der Kampf der Ukraine umso glaubwürdiger wird, je mehr sie von den rechtsextremen/faschistischen Kräften in ihren Reihen auf Distanz geht.
Kriegsgräber – Orte der Wahrheit
Putin mag zu dem verdeckten Krieg, den er führt, sagen, was er will. Dieser Krieg kostet auch auf russischer Seite Tote, die erklärt werden müssten. Und gerade das geschah zum Teil nicht.
Wie man in unserer freien Presse lesen konnte, stellte das Komitee der Soldatenmütter im Gebiet Stawropol eine Liste mit vierhundert Namen junger Männer auf, die verletzt oder getötet worden waren. Die russischen Behörden hätten sich bemüht, Nachrichten über Gefallene oder Verwundete geheim zu halten. Nachdem aber Kreml-kritische Medien berichtet hatten, dass in der Nähe von Pskow Angehörige einer Fallschirmbrigade heimlich beerdigt worden waren, wurden die Namen von den Gräbern entfernt.
Auch Ella Poljakowa, die Vorsitzende des Verbands der Soldatenmütter, forderte dazu auf, den Tod von Soldaten aufzuklären, die angeblich auf einem Truppenübungsplatz umgekommen sein sollen. Frische Gräber gibt es auch nahe der Stadt Pskow im Westen des Landes.
Diese Orte bezeugen, mit welcher Art von Regime man es im Falle von Putins Russland zu tun hat. Es ist ein Regime der Repression und der Geheimaktionen, «Pussy Riot» lässt grüssen…
Ungute Partner
Wir haben noch die verstörenden Bilder des Handschlags von Minsk im Kopf. Für die Fotografen der ganzen Welt kam es da Ende des vergangenen Monats August zu einem Treffen zwischen den Konfliktparteien.
Hauptakteure waren Petro Poroschenko für die Ukraine und Wladimir Putin für Russland. Als Vermittler fungierte der weissrussische Staatschef Alexander Lukaschenko, bekannt als Wahlfälscher und rücksichtsloser Despot und darum im Westen halbwegs geächtet. Mit von der Partie war Kasachstans Staats- und Clanchef Nursultan Nasarbajew, nur um Weniges weniger despotisch als sein weissrussischer Kollege, und schliesslich von der EU die stets etwas unbedarft wirkende, wohl aber durchaus fähige Aussenministerin Catherine Ashton, bemerkenswerterweise die einzige Frau in diesem Macho-Verein. Später tauchte wenig beachtet unsere Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini als Diskussionsleiterin auf.
Die Zusammensetzung dieses Treffens ohne substanzielles Resultat muss uns darum interessieren, weil es zu der im Westen stark verbreiteten Meinung passt, dass man nur über den Dialog zu einer Konfliktbeilegung kommen könne. Dialog ist immer gut, entscheidend ist aber, was hinter dem Dialog an Möglichkeiten steht.
Auf der westlichen Seite sind das die Sanktionen abgestufter Art. Und ausdrücklich sind es nicht militärische Interventionen, auch wenn der britische Regierungschef David Cameron nach jüngsten Meldungen die Bildung einer internationalen Eingreiftruppe mit 10’000 Mann angekündet hat.
Man sollte es so weit kommen lassen, dass man sieht, dass Russland die Konflikteinschränkung durch Dritte gar nicht will.
Zu diesem fragwürdigen Treffen von Minsk musste man wohl Hand bieten. Es gibt die kritische Volksweisheit, dass, wer Angst habe, selbst mit dem Teufel tanze. Andererseits ist es in der Geschichte immer wieder vorgekommen, dass man wohl oder übel mit höchst fragwürdigen Gegenüber verhandelte, im September 1938 beispielsweise der britische Premierminister Neville Chamberlain mit Hitler.
Aus jüngerer Zeit stammt das Abkommen von Dayton, mit dem 1995 nach dreieinhalb Jahren der Bosnienkrieg beendet wurde. Das unter der Vermittlung der USA und mit Beteiligung der EU zustande gekommene Abkommen verschaffte dem 2006 im Kriegsverbrechergefängnis gestorbenen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević vorübergehend nochmals eine Position der fast respektvollen Anerkennung.
Vielleicht hat man – sozusagen auf Stammtischebene oder nur im Clubsessel vor dem Fernsehen – eine klare Meinung, wie sich der Westen angesichts der russischen Herausforderung verhalten sollte. Nicht unwichtig dürfte für den eindeutig sich expansiv verhaltenden Putin sein, um wie viel er «zu weit» gehen kann, ohne dass er – abgesehen von den begrenzten ukrainischen Kräften selbst – auf direkte Gegenwehr stösst.
Man fragt sich vielleicht: Wo ist eigentlich die UNO? Gewiss wird deren Handlungsfähigkeit durch russische Veto-Möglichkeiten blockiert. Wenigstens sollte man es so weit kommen lassen, dass man sieht, dass Russland die Konflikteinschränkung durch Dritte gar nicht will.
Schliesslich sollte man nicht vergessen, auch Russland hat eine Innenseite. Trotz grosser Einschränkungen kann einmal der Moment kommen, da man die Aussenpolitik von Putin & Co. auch in Russland nicht mehr als gut für Russland empfinden wird. Eine Aufgabe des Westens ist es, die Russen im eigenen Land zu unterstützen, wie es der 1975 abgeschlossene Helsinki-Vertrag ermöglich hat, auf den die OSZE zurückgeht, die im Dezember 2014 in Basel zusammenkommen wird.