Die Rettung der EU hängt auch von der Rettung der Flüchtlinge ab. Dafür braucht es Kompromisse: innerhalb der EU, gegenüber der Türkei, aber auch seitens der Türkei.
«Die letzte Chance» – so heisst ein bekannter Schweizer Film von Leopold Lindtberg aus dem Jahr 1945. Er wurde mit einem Golden Globe und in Cannes mit dem Haupt- und mit dem internationalen Friedenspreis ausgezeichnet. Gemeint mit der letzten Chance war die Schweiz als Fluchtort – die letzte Chance für Flüchtlinge.
Zuletzt war damit der Versuch der EU gemeint, sich am informellen Gipfel vom 7. März in der Flüchtlingspolitik zu einigen. Das schliesslich zwölf Stunden dauernde Treffen war im voraus als «Gipfel des Alles-oder-nichts» bezeichnet worden. Sämtliche Errungenschaften der letzten 60 Jahre Gemeinschaftsaufbau stünden auf dem Spiel, hiess es.
Angela Merkel dagegen sagte sinngemäss, das sei nur einer von vielen, sich aneinanderreihenden Gipfeln: Was am 7. März nicht zustande komme, werde am nächsten Gipfel des Europäischen Rats Mitte Monat weiterdiskutiert. Insofern ist die Rede von der «letzten Chance» teilweise leeres Gerede. Aber das ist offenbar nötig, um die Kompromissbereitschaft etwas in Bewegung zu versetzen.
Die Zeit bleibt zwischen den Gipfeln nicht stehen, der Zustrom der Flüchtlinge fliesst weiter.
Kompromissbereitschaft: Wir müssen davon ausgehen, dass die Formulierungen, auf die man sich geeinigt hat, einigen Spielraum enthalten. Die Welt des Faktischen und die Welt der Formulierungen sind da nur bedingt deckungsgleich. Das ist gut und schlecht so.
Gut, weil es Brüche vermeidet, ungut, weil es Illusionen nährt. Und doch wiederum gut, wenn es die Fortsetzung der Einigungsbemühungen ermöglicht. Es war wieder einmal einer dieser diplomatischen Gipfel, an denen wir als grosses Publikum teilhaben und doch nicht wirklich teilhaben können.
Die Bedrängnis besteht allerdings darin, dass die Zeit zwischen den Gipfeln nicht stehen bleibt. Während andere pendente Probleme sich nicht sogleich laut melden, wenn sie ungelöst bleiben, zum Beispiel in der Energie- oder in der Verkehrspolitik, bleibt der Zustrom der Flüchtlinge in der Zwischenzeit nicht stehen, sondern fliesst weiter.
Die Türkei spielt leider eine «zu wichtige» Rolle
Denken wir über Flüchtlinge und Europa nach, könnten wir die Neigung haben, uns zu überlegen, welche Rettung eigentlich wichtiger sei: die der EU oder die der Flüchtlinge. Mittlerweile hat sich gezeigt, dass beides zusammengehört.
Die gemeinsame Währung der EU-Mitglieder ist in diesem Fall nicht der Euro, sondern die Solidarität. In der Flüchtlingspolitik wird sich entscheiden, ob die EU nur ein kaum zusammenzuhaltender Verein von nationalen Egoisten – oder egoistischen Nationen – ist oder ob sich doch noch der nötige Gemeinsinn für geteilte Verantwortung durchsetzt.
Nachdem die Türkei lange Jahre die bittstellende Seite war, hat sich das Verhältnis inzwischen gedreht.
Wie man gesehen hat, spielt die Türkei in der europäischen Flüchtlingspolitik eine wichtige Rolle. Insofern als die Politik vom Machtpolitiker Erdogan bestimmt wird, spielt sie leider eine zu wichtige Rolle. Nachdem die Türkei lange Jahre (mindestens seit 1963) die bittstellende Seite war, hat sich das Verhältnis inzwischen gedreht. Die Union ist sozusagen erpressbar geworden. Die «letzte Chance» der EU scheint von der Bereitschaft der Türkei abzuhängen, den Flüchtlingsstrom in ihrem eigenen Land zu stoppen.
Die Türkei hat sich bereit erklärt, irreguläre Flüchtlinge aus Europa – konkret: aus Griechenland – zurückzunehmen, falls Europa seinerseits bereit ist, Flüchtlingen, die sich in der Türkei aufhalten, eine reguläre Einreise zu ermöglichen. Letzteres würde per Flug geschehen und müsste nach dem endlich umzusetzenden Verteilschlüssel mindestens 160’000 Flüchtlingen erlaubt werden. Das könnte eine Win-win-Situation für die EU und die Türkei sein. Und es könnte den Flüchtlingen zu verstehen geben, dass sie sich besser auf das reguläre, aber restriktive Prozedere einlassen als auf die irreguläre und gefährliche Flucht übers Wasser.
Eine pauschale Rückführung von Griechenland in die Türkei stünde im Widerspruch zum geltenden Völkerrecht.
Offensichtlich ist, dass viele Flüchtlinge bei diesem Modell das Nachsehen haben werden. Eine pauschale Rückführung von Griechenland in die Türkei, also ohne Prüfung der Asylberechtigung, stünde im Widerspruch zum geltenden Völkerrecht. Zudem beschränkt sich der Deal weitgehend auf syrische Flüchtlinge. Was geschieht mit den Irakern? Mit den Afghanen? Die Türkei kann man nicht einfach als «sicheren Drittstaat» einstufen. Zudem hat die EU keine Gewähr, dass die Türkei aus Europa Zurückgeschaffte nicht auch selbst weiter zurückschaffen wird.
Die Türkei ist nicht nur mit Forderungen angetreten, welche die Flüchtlingsfrage betreffen. Sie will auch eine Beschleunigung der EU-Beitrittsverhandlungen und insbesondere eine baldige Einführung der Visumsfreiheit für ihre Bürger und Bürgerinnen. Das gegenwärtige Paradox der Geschichte besteht darin, dass die Türkei als Preis für das Zurückhalten von Flüchtlingen die Migrationsfreiheit für die eigene Bevölkerung nach Europa bekommen will. Es gab Zeiten, da hat die EU die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige gerade darum nicht abschaffen wollen, weil sie befürchtete, von dieser Seite «überschwemmt» zu werden.
Die Türkei ist auf Beteiligung Europas angewiesen
Zugleich verwahrt sich die Türkei aber gegen Einmischung und verbittet sich, dass die Union die Einhaltung von EU-Standards insbesondere in der Medienfreiheit anmahnt. Es war für die Türkei kein Problem, während Verhandlungen mit der EU die Repression im eigenen Land – mit der Razzia bei der Zeitung «Zaman» – zu verschärfen. Vor den Kulissen wagt die EU kein hartes Wort zur Knebelung der Pressefreiheit; das Maximum bestand in der samtenen Feststellung, man habe mit dem türkischen Premierminister die «Situation der Medien» in der Türkei diskutiert.
Sicher kann die Türkei ihre Forderungen nach oben schrauben, aber sie ist darauf angewiesen, dass sich Europa an der Lösung der Probleme beteiligt, die durch den Krieg in Syrien und im Irak auch für die Türkei entstanden sind. Auf türkischem Territorium halten sich zurzeit 2,7 Millionen Flüchtlinge auf. Zur Finanzierung darf die EU – und darf auch die Schweiz – mindestens so viel aufwenden, wie diese Menschen kosten würden, wenn sie bei uns wären.
Es ist nötig, dass sich die EU auch inhaltlich an der Betreuung der Flüchtlinge in der Türkei beteiligt.
Es ist nicht gegen die Interessen der Flüchtlinge und auch nicht per se fremden- und flüchtlingsfeindlich, den Aufenthalt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Katastrophenregion als besser anzusehen, zumal wenn er mit Arbeitsfreiheit und Schulprogrammen verbunden ist. Es kann aber nicht einfach darum gehen, Geld einzuschiessen: drei Milliarden Euro und dann eben nochmals drei Milliarden Euro. Erwünscht und nötig ist, dass sich die EU (neben dem UNHCR) auch inhaltlich an der Betreuung der Flüchtlinge beteiligen würde.
Zu den Kosten: Die vielen Abhaltezäune zwischen Mazedonien, Serbien, Ungarn, Slowenien, Kroatien und Österreich kosten ebenfalls viel Geld, ohne dass dies genügend thematisiert würde. Und noch kostspieliger sind die Personalkosten an den Grenzen, ob nun Zivile oder Militärs eingesetzt werden. Auch die Nato, die als rettender Engel eingreifen soll, arbeitet nicht gratis.
«Schengen» muss wieder gelten
Mit der «Bewältigung» der Flüchtlingsfrage soll das Schengen-Abkommen wieder in Kraft gesetzt, das heisst der freie Personenverkehr im Binnenraum wieder hergestellt werden. Die Infragestellung von «Schengen» hat verschiedene Stellen veranlasst, auf die finanziellen Einbussen hinzuweisen, mit denen der Verzicht verbunden wäre.
In Frankreich ist eine regierungsnahe Analysegruppe zum Schluss gekommen, dass die dauerhafte Schliessung der innereuropäischen Grenzen die europäische Volkswirtschaft im Zeitraum von zehn Jahren 110 Milliarden Euro kosten würde. Allein Frankreich müsste mit einem Verlust von 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) rechnen. In Deutschland sind hochrangige Ökonomen zu ähnlichen Schlüssen gekommen und warnen vor negativen Auswirkungen auch auf das Investitionsklima und die Transportleistungen.
War der Gipfel vom 7. März auch fürs Überleben der nicht mehr ganz so starken Kanzlerin Merkel eine «letzte Chance»? Man rechnet beim bevorstehenden Abstimmungswochenende in den drei Bundesländern Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt mit Wählerverlusten für die Union. Es ist jedoch kaum vorstellbar, dass die CDU- und CSU-Hardliner die Kräfteverschiebung zugunsten der Alternative für Deutschland (AfD) nutzen werden, um Merkel abzuservieren, die bisher derart erfolgreich regiert hat und jetzt in der grosszügigen Aufnahme von Flüchtlingen eine «verdammte Pflicht» sieht.
Über den innenpolitischen Sorgen sollte nicht vergessen werden, dass derweil noch immer viele Flüchtlinge unterwegs sind und ihre «letzte Chance» in einer neuen Zukunft fern ihrer desaströsen Heimat suchen.