Riskante Recherchen in der Volksrepublik

Nur wenige ukrainische Journalisten können aus den Separatistengebieten im Osten berichten. Kiewer Medien verlassen sich auf anonyme Quellen im Internet. Und im Donbass gründen Separatisten-Anhänger eigene Redaktionen.

(Bild: Jewgenij Schibalow/Facebook)

Nur wenige ukrainische Journalisten können aus den Separatistengebieten im Osten berichten. Kiewer Medien verlassen sich auf anonyme Quellen im Internet. Und im Donbass gründen Separatisten-Anhänger eigene Redaktionen.

Kiew (n-ost) – Von seiner Zeitung sind Andrej Dihtjarenko nur Erinnerungen und ein paar gedruckte Ausgaben geblieben. Dihtjarenko, blondes Haar, gross, schmächtig, steht in der Dämmerung in einem Kiewer Neubaubezirk am linken Ufer des Dnjepr. In den grauen Wohnblöcken brennen Hunderte Lichter, auf der Strasse verkaufen Händler Räucherfisch. Dihtjarenko öffnet den Kofferraum seines Autos: darin ein Stapel der «Realnaja Gazeta».

Der Journalist kramt eine Ausgabe hervor: Das Cover ziert einen Separatistenführer der «Luhansker Volksrepublik» vor einem Gemälde von Stalin und Marx. Im Inneren des Blattes beschreibt der 34-Jährige kritisch die Enteignungen im Separatistengebiet. Mitte Juni 2014 erschien dieser Artikel. Es war eine der letzten Ausgaben der Wochenzeitung.

Seit der Machtergreifung der Separatisten im vergangenen April ist es für proukrainische Journalisten in der Ostukraine gefährlich geworden. «Man warnte uns in regelmässigen Abständen, dass wir uns nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen sollen», so schildert es Dihtjarenko bei einem Kaffee in einem Selbstbedienungsimbiss. Dazu kam die sich verschlechternde allgemeine Sicherheitslage. Luhansk war von der ukrainischen Armee eingekreist, die Stadt wurde intensiv beschossen.

«Das ganze System brach zusammen», sagt Dihtjarenko. Als die Kioske dicht machten und der Vertrieb der Zeitung unmöglich wurde, gaben er und seine Kollegen auf. Fotoapparate, eine Videokamera und mehrere Computer nahmen sie mit. Das Archiv der Zeitung mussten sie in der Stadt lassen. Mit seiner Familie und ein paar Habseligkeiten fuhr er im Auto nach Kiew. Das Kennzeichen «WW» – die Abkürzung für das Luhansker Gebiet – sei in der Hauptstadt «nicht sehr beliebt», sagt Dihtjarenko mit einem matten Lächeln.

Sturm auf die Fernsehtürme

«Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.» Diesen Ausspruch hört man anlässlich des Ukraine-Konflikts häufig. Doch bevor die Wahrheit stirbt, muss das Feld dafür vorbereitet werden. Im Kriegsgebiet in der Ostukraine wurden Journalisten bedroht und vertrieben, bevor Faktenfälschung, Propaganda und Lügen sich den Weg bahnen konnten.

Der Krieg im Donbass hat auf mehreren Ebenen dramatische Auswirkungen auf Medien und Journalisten – und damit auf die Berichterstattung. Als die Separatisten Anfang April 2014 öffentliche Gebäude in mehreren Städten der Region besetzten, planten sie als nächstes den Sturm auf die Fernsehtürme. Missliebige TV-Kanäle wurden abgeschaltet, Redaktionen besetzt.

Medien, die aus der Sicht der prorussischen Aktivisten ukrainische Propaganda verbreiteten, wurden bedroht. «Wir galten plötzlich als Feindesblatt», erinnert sich ein Donezker Journalist einer auflagenstarken Kiewer Tageszeitung, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will. «Ende Mai hiess es dann: Wir müssen weg.» Die Zentrale konnte nicht mehr für die Sicherheit der Mitarbeiter garantieren.

Im vergangenen April und Mai fand in den selbst ernannten Volksrepubliken geradezu eine Jagd auf Journalisten statt. Viele einheimische und einige ausländische Reporter landeten «im Keller» – ein Synonym für die illegale Haft in den von Bewaffneten besetzten Geheimdienstgebäuden, Schläge und Folter inklusive.

Die Redaktion musste nach Kiew umsiedeln

Mittlerweile haben nahezu alle überregionalen ukrainischen Medien ihre Büros in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten geschlossen. Aber auch unabhängige Lokalmedien sind von dem Exodus betroffen. Das «Donezker Bürgerfernsehen» sendet aus einem improvisierten Studio in der Stadtbibliothek des ostukrainischen Städtchens Slowjansk. Slowjansk, 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt, steht seit dem Frühsommer unter der Kontrolle der Armee.

Die kritische Info-Website «Donbass-Nachrichten» musste nach Kiew übersiedeln. Die meisten Journalisten der unabhängigen Website «Ostrow» sind ebenso aus dem Donezker Gebiet ausgereist. Lediglich ein Korrespondent ist noch vor Ort. Er arbeitet undercover. Die Redaktion möchte den Kontakt nicht herstellen. Zu gefährlich, heisst es, man fürchte um die persönliche Sicherheit des Kollegen.

Während ausländische Journalisten mittlerweile weitgehend ohne Probleme auf beide Seiten der Front reisen können, ist das für ukrainische Journalisten viel riskanter. Es gibt nur ein paar Kiewer Reporter wie etwa Igor Burdyga von der Wochenzeitung «Westi Reportjor», die hinter die Frontlinie fahren können. Journalisten proukrainischer Medien – etwa des TV-Senders «Fünfter Kanal» – sind in Donezk nicht erwünscht.

Nur Kritik ist nicht erwünscht

Marina Bereschnewa zitiert Stalin, wenn sie die Anforderungen an die Medien in der Donezker Volksrepublik erläutert: «Kritisier‘ nicht nur, mach Vorschläge!» Medien müssten, neben korrekten Berichten, die «Sprünge in der Gesellschaft kitten» und den Weg voran weisen, «damit die Toten nicht umsonst gestorben sind», sagt die Frau mit dem feuerrot gefärbten Haar.

Sie sitzt im zweiten Stock eines modernen Bürohauses, in dem mehrere Ministerien der Donezker Volksrepublik untergebracht sind. Das Zimmer ist blank geputzt und karg, die wenigen Möbel riechen noch nach Verpackung. Bereschnewa bekleidet zur Zeit den Posten der Informationsministerin, nachdem die bisherige Amtsinhaberin auf eine Mine getreten ist und schwer verletzt wurde. Ukrainische Medien würden es mit der Wahrheit nicht sehr genau nehmen, kritisiert die Frau. Im Übrigen seien die proukrainischen Redaktionen nicht aus den Volksrepubliken vertrieben worden. Sie seien von selbst gegangen.

Derzeit müssen sich in der Donezker Volksrepublik die Medien bei den Behörden neu registrieren. 130 Medien haben sich nach Angaben des Informationsministeriums angemeldet – eine stattliche Zahl. Doch die Medienlandschaft hat sich dramatisch verändert. Erwähnt sei das einflussreiche Fernsehen: Es gibt nun vier neue Lokalsender, die die offizielle Sicht der Separatisten präsentieren – aber keine Privatkanäle mehr. Auch ein staatliches Nachrichtenportal namens «DNR Today» und eine Nachrichtenagentur wurden gegründet. Bürger, die im besetzten Donbass oppositionelle Standpunkte mitbekommen wollen, sind auf das Internet angewiesen.

Fakten oder Propaganda?

Das Internet ist seit der gewaltsamen Spaltung der Medienlandschaft zur Hauptquelle für die traditionellen ukrainischen Medien fern vom Konfliktgebiet geworden. Anonyme User laden in den sozialen Medien selbst produzierte Aufnahmen hoch – für jedermann verfügbar, für jedermann frei zur Interpretation.

Ein und dasselbe Video kann von beiden Seiten als Beweis für die Verbrechen des Gegners verwendet werden. Bilder, die Granateinschläge zeigen, können selten die Frage nach dem Urheber beantworten, werden aber gerne als Illustration genutzt. Fakten oder Propaganda? Eine Prüfung des Materials ist schwierig. Journalisten begeben sich auf eine Gratwanderung.

Dass der Krieg auf ostukrainischem Boden auch ein Krieg der Worte und Bilder ist, ist nirgendwo so spürbar wie in der Ukraine selbst. Viele Bürger hatten das Gefühl, der russischen Propaganda hilflos wie einer grossen Flutwelle ausgeliefert zu sein. Mittlerweile versucht der Staat selbst, im Propagandakrieg zu punkten. Ein neu gegründetes Informationsministerium soll sicherstellen, dass nur noch abgestimmte Information aus den Behörden nach draussen dringen.

Dem TV-Kanal «Inter» droht ein Lizenzentzug, da er zu prorussisch sei. Der Kanal, der dem in Österreich festsitzenden Erdgas-Oligarchen Dmitro Firtasch gehört, hatte am Neujahrsabend eine Gala mit «unerwünschten Persönlichkeiten» ausgestrahlt, etwa mit dem gebürtigen Donezker Schlagersänger und russischen Politiker Josif Kobson, der zuvor auch bei Propagandaevents der Separatisten aufgetreten war. Der TV-Sender «Ukraine Today» des Oligarchen Ihor Kolomojskij verbreitet dagegen nur Nachrichten aus proukrainischer Perspektive.

Der Kiewer Medienwissenschaftler Jewhen Fedtschenko vom Internetprojekt StopFake.org sagt dennoch, von ukrainischer Seite könne nicht von Propaganda gesprochen werden: «Aus meiner Sicht gibt es keine ukrainische Propaganda.» Es gebe zwar Falschmeldungen, aber keine Propaganda in Form eines «von oben nach unten gesteuerten Prozesses». In der Ukraine fehle – anders als in Russland – diese zentrale Kontrolle.

Der Journalist Andrej Dihtjarenko sieht das kritischer: «Ukrainische Journalisten opfern die Objektivität, etwa wenn sie die Schandtaten von einigen Freiwilligenbataillonen verheimlichen.» Er beurteilt diese Manipulation als unredliche Reaktion der ukrainischen Kollegen: Die Angst, bei kritischer Berichterstattung von russischer Propaganda vereinnahmt zu werden, sei sehr gross. Journalisten mögen in manche Propagandaschlacht ziehen, sie sind aber auch Opfer des Krieges: Fünf Journalisten und ein Medienassistent wurden nach Angaben von «Reporter ohne Grenzen» im vergangenen Jahr in der Ostukraine getötet.

Bomben und Granaten vor der Haustür

Wenn Jewgenij Schibalow im Sommer aus dem Fenster schaute, dann konnte er den Granaten beim Einschlagen zusehen. Seine Wohnung am Stadtrand von Donezk war als Beobachtungsposten perfekt geeignet – mit hohem Risiko. Seine Familie hat er längst in Sicherheit gebracht. Er selbst blieb. Und schrieb. Schibalow ist ein hagerer 33-Jähriger mit dunklen Ringen unter den Augen. Der Korrespondent der Kiewer Wochenzeitung «Zerkalo Nedeli» ist vielleicht der einzige ukrainische Journalist, der seit Beginn des Konflikts in der Ostukraine vor Ort ist und unter seinem Namen für ein Medium schreibt, das nicht unter dem Einfluss der ostukrainischen Separatisten steht.

Der «Zerkalo Nedeli»-Korrespondent fährt selbst an die Schauplätze des Konflikts. Er konzentriert sich auf die humanitäre Lage – «das akuteste Thema hier», wie er sagt. «Alle Medien schreiben über den Krieg. Doch hier leben Millionen friedlicher Bürger.» Als bekannter proukrainischer Journalist gibt es für ihn Einschränkungen: Er darf sich keinen militärischen Objekten nähern, und er darf die prorussischen Bewaffneten nicht als Terroristen bezeichnen. An der Wortwahl Separatisten halte er eisern fest, erklärt Schibalow, von Freiheitskämpfern habe er noch nie geschrieben. Bisher hat es mit der Akkreditierung noch immer geklappt.

Der Korrespondent der auflagenstarken Kiewer Tageszeitung ist dagegen nach der Auflösung seiner Redaktion nur noch undercover unterwegs. Er berichtet vom Alltag im Krieg, zum Beispiel vom Überleben ohne Bargeld. «Ich habe keine Propaganda-Absichten», sagt er. «Ich beschreibe das, was ich sehe.»

Schreiben über Gut und Böse

Im Kiewer Neubaubezirk versucht Andrej Dihtjarenko weiter, mit den Menschen in der Konfliktregion Kontakt zu halten. Er leitet auf der Webseite des Senders «Freies Europa» ein Projekt, in dem er Stimmen aus dem Kriegsgebiet Raum gibt. Diese «Briefe aus dem besetzten Donbass» sollen eine Perspektive von innen geben, erklärt er. Die Rubrik sei ein Versuch, über den Krieg zu schreiben, abseits der trockenen und scheinbar immer gleichen Nachrichten über Einschläge, Gebietsgewinne und Tote. «Die Autoren schreiben darüber, wie es ist, Bürger eines besetzten Gebietes zu sein. Sie schreiben über ihre Probleme, nicht über Gut und Böse.»

Dihtjarenko selbst wird weiter in Kiew bleiben und von dort aus der Ferne über seine Heimat berichten. Solange die Separatisten an der Macht seien, sei es für ihn im Osten zu gefährlich. Erst wenn die ukrainische Fahne über der Stadtverwaltung von Luhansk wehe, kehre er zurück, sagt der 34-Jährige und lächelt ein wenig verzagt. Dihtjarenko weiss, dass bis dahin noch viel Zeit vergehen kann.
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Dieser Artikel entstand im Rahmen von «Stereoscope Ukraine», einem Projekt des Herausgebers von ostpol, dem Journalistennetzwerk n-ost.

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