Heute vor 300 Jahren, am 28. Juni 1712, kam Jean-Jacques Rousseau in Genf zur Welt. Während der letzten fünf Tage erinnerten wir an bemerkenswerte Schriften des Philosophen und Pädagogen. Im letzten Teil der Serie widmen wir uns seinen letzten Jahren und seiner Vorstellung von Glück.
«Dauerhaftes Glück jedoch hat, so glaube ich, noch nie ein Mensch kennengelernt.»
Jean-Jacques Rousseau fiel nach einem Spaziergang am 2. Juli 1778 im Park von Ermenonville tot um. Dieses Ereignis sollte den Schlusspunkt hinter die bewegte Lebensgeschichte des passionierten Spaziergängers setzen, eine Geschichte, die voller Kehren und Wendungen, voller Widersprüche ist.
Nachdem Rousseau seine beiden systematischen Hauptwerke – den Émile (vgl. Teil 4 dieser Serie) und den Contrat social (vgl. Teile 2 und 3) – im Jahre 1762 zu Ende gebracht hatte, wandte sich der französische Staat gegen ihn und erliess einen Haftbefehl. Grund dafür war ein Passus aus dem Émile, das «Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars», in dem Rousseau sein Konzept der «Religion seines Herzens», die mit der christlichen Dogmatik nicht zu vereinbaren war, kundtat. Rousseau ergriff (wie schon ein paar Mal in seinem Leben) die Flucht und versuchte zunächst in seiner Heimatstadt Genf unterzukommen – vergebens, wie sich herausstellen sollte. Die Genfer goutierten nicht nur den Émile, sondern auch den Contrat social nicht, und Rousseau musste mit seiner Frau Thérèse weiterziehen, bis die beiden schliesslich im preussischen Môtiers nahe Neuenburg aufgenommen wurden.
Flucht auf Flucht
Zur Ruhe kam Rousseau indes auch in der neuenburgischen Provinz nicht, denn in einer anonymen Schrift (dahinter verbarg sich wahrscheinlich kein geringerer als Voltaire) wurde publik gemacht, dass der grosse Pädagoge Jean-Jacques Rousseau alle seine fünf Kinder ins Findelhaus gab; in der Folge warfen die Dorfbewohner Steine nach ihm und so musste er abermals flüchten, nächste Station: Petersinsel. Doch auch die Offiziellen in Bern, unter deren Verwaltung die Insel stand, waren ihm nicht wohlgesinnt, weshalb er von dem schottischen Philosophen David Hume, der von seinem Schicksal erfuhr, eine Einladung nach England erhielt, die er annahm, mit dem er sich aber nach gut einem Jahr schon wieder überworfen hatte. Danach begab sich Rousseau dem trotz Haftbefehl erneut nach Paris, wo er von den Behörden aber geduldet wurde. Er verdiente sich mit dem Abschreiben von Noten den Lebensunterhalt, bis er im Mai des Jahres 1778 schliesslich einer Einladung des Marquis de Girardin auf Schloss Ermenonville folgte, in dessen Park er schliesslich (vermutlich an einem Schlaganfall) starb.
Nach der Publikation seiner Hauptwerke beschäftigte sich Rousseau stark mit sich selbst und seinem Leben, begann das autobiografische Werk «Die Bekenntnisse», die er allerdings nie vollendete, und versuchte, in Inszenierung eines Dialogs mit sich selbst (Rousseau juge de Jean-Jacques), die Verschwörung, als deren Opfer er sich sah, aufzudecken und sich selbst zu rechtfertigen. Rousseau litt vermutlich während vieler Jahre seines Lebens unter einer Paranoia, hegte stets Verdacht und Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen. So ergab es sich beispielsweise auch, dass er die Einladung David Humes nach England als «Plan gewisser Leute, mich nach England zu verfrachten» sah. Das letzte Projekt, Fragment geblieben, das er in Angriff nahm, waren die Träumereien des einsamen Spaziergängers, aus denen auch das eingangs genannte Zitat stammt.
Rousseaus Träumereien sind Meditationen, Niederschriften gedanklicher Erfahrungen mit sich und der Welt, von der er den Eindruck gewinnt, dass sie sich gegen ihn gewendet habe. Rousseau ist einsam, die Träumereien beginnen mit dem Satz: «So bin ich nun allein auf dieser Welt, habe keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft ausser mir selber.» Die Gesellschaft habe ihn, der «geselligste und warmherzigste» unter ihnen, «verbannt». Die Einsamkeit hinterlässt beim Leser allerdings einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits tut er sein Leiden an ihr kund, bedauert Missmut und Ablehnung, die ihm zuteil wurden, andererseits erfährt er in der Einsamkeit auch sein vollendetes Glück.
Flüchtiges Glück
Glück erfahren, was heisst das? Die weltlich-sinnlichen Freuden sind in einer Welt, in der alles «in stetigem Fluss» ist, vergänglich, Glück kann so nur ein flüchtiger Zustand sein. Doch Rousseau fragt sich, mit welchem Recht man einen «flüchtigen Zustand», der uns doch nie zufrieden zu stellen vermag, Glück nennen könne. Rousseau glaubt, in seinen «einsamen Träumereien» im Bott oder am Ufer des Sees auf der Petersinsel eine andere Qualität von Glück erreicht zu haben: «makelloses, vollkommenes Glück, das in der Seele keine Lücke hinterliesse, die man noch zu schliessen begehrte.» Glücklichsein versteht Rousseau als einen unzeitlichen Zustand, der natürlich nicht für immer andauert, aber doch nicht immer schon entflieht, sobald er da ist; ein Zustand in dem man weder auf das Noch-Nicht hoffen, noch sich nach dem Nicht-Mehr sehnen muss – vollendete Gegenwart, sofern man von Gegenwart ohne Zeit noch sprechen kann. Er erfährt in solch einem Moment nur sich selbst, «nichts jedenfalls, das ausser uns wäre. Solange dieser Zustand währt, sind wir, wie Gott, uns selbst genug.»
Es mag tendenziös erscheinen, wenn jemand darüber schreibt, was es bedeutet, glücklich zu sein. Man mag sagen, dass jeder und jede doch selbst fühlen müsse, wann sie glücklich sei und wann nicht. Rousseaus Reflexionen sind auch nicht als Anweisung zu verstehen, sondern geben einen tiefen Einblick ein sein Inneres, das von einer Seelenkrankheit getriebene, und erschliessen seltene Momente des Glücks. Aus ihnen spricht mit einer Sprachgewalt, die ihresgleichen sucht, die Tragik der Existenz Rousseaus, der die Welt liebte und retten wollte, obschon sie ihm nicht Freund war, der die Kultur kritisierte, obschon er wusste, dass er selbst Kultur produzierte, der sich gegen Widerstände zur Wehr setzte, auch wenn er wohl wissend selbst ein Widerstand war. In diesem Sinne mag man ihm sein Glück in Einsamkeit gönnen – in Gesellschaft und mit der Welt hat und hätte er es nicht finden können.
Quellen
Literatur:
- Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, Stuttgart: Reclam 2011.
Links:
- Sternstunde Philosophie zu Rousseau mit Francis Cheneval
- Sternstunde Philosophie zu Rousseau mit Dieter Sturma