In Mexiko-Stadt geniesst Judas Thaddäus die Popularität eines Popstars. An seinem Namenstag am 28. Oktober strömen Zehntausende in seine Kirche – und zwar nicht nur die besonders Frommen.
Die Waggons der U-Bahn sind proppenvoll. Zwischen den Köpfen der Fahrgäste ragen immer wieder bärtige Heiligenfiguren in allen Grössen hervor.
Wers eilig hat, sollte am 28. Oktober besser nicht die Metro-Station Hidalgo aufsuchen: Eine schier endlose Pilgerschar erklimmt an jenem Tag die Treppen zur Erdoberfläche. Viele tragen T-Shirts und Baseballkappen, einzelne auch eine grüne Tunika, ganz nach dem Vorbild ihres «San Juditas», wie der Heilige liebevoll genannt wird.
Baby in grüner Judas-Tunika. (Bild: Michel Schultheiss)
Junge Gesichter sind am meisten zu sehen, aber auch ganze Familien und Rentner stehen vor der Kirche San Hipólito Schlange. Nahe beim historischen Zentrum von Mexiko-Stadt befindet sich nämlich der wichtigste Altar des Apostels Judas Thaddäus.
«Judas hat mich geheilt»
Ein lebensgrosses Exemplar des Heiligen sticht aus der Masse heraus. Zwei junge Männer schleppen ihn durchs Getümmel. Einer von ihnen, der 21-jährige Jus-Student Kevin, hat guten Grund hierher zu kommen: Auf offener Strasse wurde ihm in die Schultern geschossen. Dass er nun die Figur tragen kann, hält er für ein Wunder: «Judas hat mich geheilt», sagt er.
Eine von vielen Heiligenstatuten unterwegs in der Stadt: Kevin mit lebensgrossem Judas. (Bild: Michel Schultheiss)
Sein Cousin Alfonso (28), welcher die Heiligenfigur bei sich zu Hause stehen hat, ist aus einem anderen Grund hier: «Meine Frau konnte während Jahren keine Kinder bekommen», erinnert er sich. «Nun ist sie aber im sechsten Monat schwanger.» Wenn er seinen Thaddäus ins Stadtzentrum trägt, erntet er reichlich Aufmerksamkeit: Viele der Pilger möchten für ein Selfie davor posieren.
Wie Kevin und Alfonso zieht es an jedem 28. Tag eines Monats Tausende zur Kirche San Hipólito. Im Oktober aber, wenn der eigentliche Namenstag von Judas Thaddäus ist, platzt die Gegend um die U-Bahn-Station Hidalgo aus allen Nähten.
Der Schutzpatron unter der Haut
Der Apostel ist nicht zu verwechseln mit Judas Ischariot, dem berüchtigten Verräter aus der Jüngerschar. Nicht zuletzt wegen seines Namensvetters ist der andere Judas bisweilen in Vergessenheit geraten. In Mexiko jedoch geniesst der Schutzpatron für die ausweglosen Situationen eine hohe Popularität.
Die Liebe zu Judas geht unter die Haut bei José Alfredo Mendoza. (Bild: Michel Schultheiss)
Insbesondere sozial benachteiligte Leute können sich besonders gut mit ihm identifizieren. So etwa auch der 53-jährige José Alfredo Mendoza: Rund zehn Jahre seines Lebens verbrachte er im Gefängnis. Bei ihm geht der Judas-Glaube besonders unter die Haut: Seit 21 Jahren prangt ein Tattoo des Schutzpatrons auf seiner Brust.
Der Heilige ist aber auch längst auch eine Ware. Ein Verkaufsstand steht neben dem anderen. T-Shirts, Kissen und Seifen werden feilgeboten. Auch die umstrittenen blau und rosarot eingefärbten Küken mit aufgeklebten Hüten piepsen in einer Kiste, bereit zum Verkauf. Kinderwagen mit ganz in Grün gekleideten Babys werden vorbeigeschoben, dazwischen liegen einzelne Betrunkene am Boden.
Nicht nur verehrt, sondern auch verhökert: Judas ist auch eine Ware geworden. (Bild: Michel Schultheiss)
Mehr als ein Gangster-Apostel
Nicht allen Leuten ist der Pilgerzug geheuer – geniesst er doch den Ruf, zwielichtige Gestalten anzuziehen. Manche nennen San Judas daher den Heiligen der «Chakas». Mit dieser despektierlichen Bezeichnung sind meist junge Männer mit Gangster- oder Reggaetonero-Look gemeint. Man munkelt, dass viele unter Drogeneinfluss die Kirche betreten.
Allerdings beschränkt sich der Kult um San Judas keineswegs nur auf diese eine Szene, wie Rolando Macías Rodríguez betont. Der Historiker und Anthropologe von der Escuela Nacional de Antropología e Historia (ENAH) hat sich intensiv mit dem religiösen Phänomen beschäftigt. Er kam in seinen Untersuchungen zum Schluss, dass auch Leute aus dem Mittelstand – Lehrer, Hausfrauen, Händler, Schüler und Handwerker – zur Pilgerschar gehören.
Sogar Vertreter aus der mexikanischen Oberschicht, etwa Unternehmer sowie prominente Fussballer und Künstler zählen sich zur Anhängerschaft. «Die Verehrung dieses Heiligen bringt alle Schichten durcheinander», hält Macías Rodríguez fest.
Arbeit, Gesundheit, Ausbildung, aber auch Beistand für Verbrecher – San Juditas ist für alle kniffligen Situationen zuständig.
Die Motive der vielen Leute vor der Kirche sind auch unterschiedlich, denn ausweglose Situationen gibt es viele in Mexiko. Der 28-jährige Carlos betet etwa für seine Eltern, die an Diabetes leiden; eine Familie aus Toluca kommt wegen Problemen mit Schulden.
Auch fünf Stunden Fussmarsch konnten sie nicht abhalten, dabei zu sein: Miriam mit Mutter Leticia im Rollstuhl und ihre Pilgergruppe. (Bild: Michel Schultheiss)
Eine weitere Gruppe von Pilgerinnen hat einen fünfstündigen Fussmarsch zurückgelegt. Dabei hat Miriam Pérez ihre Mutter Leticia über die ganze Strecke im Rollstuhl geschoben. «Sie leidet an einer schweren Verletzung am Kopf, daher kommen wir seit fünf Jahren jeden Monat hierher.» Die 33-jährige Hausfrau Mayra trägt ihre anderthalbjährige Tochter Lizbet auf dem Arm: «Judas hilft uns in guten und schlechten Zeiten», sagt sie – Lizbet sei nämlich im Alter von acht Monaten nach einer schweren Krankheit wieder gesund geworden.
Ein Heiliger des Volkes
Rolando Macías sieht mehrere Gründe für die Popularität von San Judas: «Die Hoffnungslosigkeit und der tägliche Kampf ums Überleben in Mexiko sind dabei entscheidend.» Arbeit, Gesundheit, Ausbildung, Wohnung sind wichtige Anliegen – aber auch Hilfe bei der Entlassung aus dem Gefängnis oder Beistand, um nicht bei illegalen Aktivitäten erwischt zu werden. Judas ist für alle kniffligen Situationen zuständig.
Besonders in den letzten 30 Jahren hat er enorm an Popularität zugelegt. Eigentlich ist «seine» Kirche aus dem 18. Jahrhundert den Heiligen Hippolyt und Kassian gewidmet. Der zuständige Orden der Claretiner hob jedoch 1982 San Judas auf den Hauptaltar, und somit mauserte sich der Ort zum wichtigsten Pilgerzentrum jenes Apostels. Faktisch ist sie nun eine Domäne von Judas, doch es wäre zu kompliziert, den offiziellen Namen zu ändern. «Es waren die Kirchgänger und nicht die Obrigkeiten, welche dieser Kirche eine höhere Bedeutung verliehen», meint Macías Rodríguez.
In T-Shirts des Lieblingsheiligen
Federico und Paola kommen mit dem Motorroller zur Kirche. (Bild: Michel Schultheiss)
Dies trifft etwa auch für eine Familie zu, die mit zwei Motorrollern zur Kirche kommt. Die Vehikel dienen nur dazu, die Heiligenbilder zu transportieren. Den Weg Atizapán de Zaragoza im Bundesstaat Mexiko ins Zentrum der Hauptstadt haben Gabriel (33) und seine fünf Kinder zu Fuss zurückgelegt. Die ganze Familie trägt T-Shirts ihres Schutzpatrons. Gabriels Neffe hat sogar einen Sohn, der zu Ehren des Heiligen den Namen Tadeo trägt. Seit sechs Jahren glaubt Gabriel fest an Judas: «Vorher hatte ich nichts – nun aber habe ich ein Grundstück und einen Motorroller», sagt er zufrieden.
Auch Federico und Paola sind mit von der Partie – ein frisch verheiratetes Paar. Die beiden arbeiten als Angestellte in Iztapalapa, einem riesigen Bezirk im Osten der Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern, welcher zugleich einer der ärmeren Teile der Stadt ist. Judas zieht aber nicht nur bei jungen Leuten: Der 77-jährige ehemalige Busfahrer Eulalio wartet ebenfalls mit einer Judas-Figur vor der Kirche: «Er ist nicht einfach unser Lieblingsheiliger – er ist quasi eine Filiale unseres Schöpfers», hält er fest.
«Judas ist einfach unser Lieblingsheiliger», sagt Eulalio, 77, ehemaliger Buschauffeur. (Bild: Michel Schultheiss)
Wenn die Pilger ihr eigenes Ding machen
Obschon Thaddäus ein offizieller Heiliger ist, deckt sich die Auffassung der Gläubigen nicht immer mit derjenigen der kirchlichen Autoritäten. «Manche, wenn auch nur wenige Pilger kommen tatsächlich unter Drogen- oder Alkoholeinfluss in die Kirche», meint Rolando Macías Rodríguez.
Dies ist aber längst nicht der einzige Punkt, der den Judaskult von der offiziellen Religion unterscheidet: Dies sehe man gut an den Heiligenbildern, die zu Hause aufbewahrt und stets mitgetragen werden. «Sie sind sozusagen materialistischer, da es darum geht, jeden 28. Tag des Monats den Heiligen zum eigenen Schutz quasi aufzuladen», erklärt der Historiker.
Daher sehen sich auch nicht alle Gläubigen als Katholiken. Der Kult um den Apostel mit der grünen Tunika hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Stück weit verselbstständigt. Die Loyalität zu «San Juditas» ist manchem Pilger wichtiger als die Kirche als Institution.