Soll der Berner Jura den Kanton wechseln? Wir nutzen die kommende Abstimmung für eine Reise in die Terra incognita. Für die erste Etappe dringen wir von Biel ins Kalkgebirge vor: von Corgémont über Saint Imier, den Mont Soleil bis La Ferrière.
Das ist er also, der äusserste Westen des «Jura bernois». La Ferrière. Wild. Ein Autofriedhof lässt erahnen, wie nahe der Jura ist (wir wissen ja, wie die ihre Kurven schneiden). Die Grenze zu Frankreich liegt gleich um die Ecke, ebenso der Kanton Neuenburg. Wilder Westen gar? Tatsächlich vermitteln Landschaft und Höfe einen solchen Eindruck: Pferde, so viele Pferde rund um den Mont Soleil. Und dann ist da diese «Little Ranch», im Sommer ein Biker-Treff.
Sylvie Fuhrer führt ihn mit ihrem Mann. Sie stamme ursprünglich aus der Bretagne, erzählt sie uns. Schlägt ihr Herz also für den Kanton Jura, der Frankreich näher liegt als Bern? Nein, sie habe keine Lust, die Zugehörigkeit zu wechseln. Jahrelang habe man darum gerungen, dass Kinder ab 16 Jahren ins nähere La Chaux-de-Fonds (Kanton Neuenburg) zur Schule gehen können. Und nun soll alles wieder ändern, weil man zum Jura wechsle? Lieber nicht.
Dasselbe hörten wir schon, als wir vom bilinguen Biel/Bienne dem Kalkstein folgten, zum Chasseral, Richtung Saint-Imier. Sankt-Immer-Tal nennt es Brocantier Henri-René Meier in Corgémont. Wie die meisten Menschen hier hat er Deutschschweizer Vorfahren. «Das Sankt-Immer-Tal fühlt sich Bern zugehörig», sagt er und erzählt, dass es vor langer Zeit von vielen Berner Bauern besiedelt worden sei. Dann folgte die Uhrenindustrie, für die auch er, ausgebildeter Ingenieur, lange arbeitete und im Auftrag von Nicolas Hayek Firmen sanierte – bis er ausgebrannt war und seinem Leben einen neuen Sinn verlieh. Er, der aus einer Ingenieursfamilie stammte und eigentlich gerne Künstler geworden wäre.
Bilingue und stolz darauf
Als Meier von unserer Herkunft erfahren hat, spricht er auf Schwyzerdütsch weiter, mit diesem charmanten frankophonem Accent. «Viele Familien hier im Tal entlang der Suze reden zu Hause noch immer Mundart, in der Schule oder im Bistro hingegen Französisch.» Man sei bilingue – und stolz darauf.
Dass am Wochenende dennoch einige Leute für das Zusammengehen mit dem Kanton Jura stimmen, zeigt sich an den Strassenrändern. An Kalksteinfelsen findet man – fast Höhlenmalereien gleich – zwar mehrheitlich den Berner Bär aufgemalt, einige Sprayereien aber zeugen davon, dass nicht alle damit einverstanden sind. Früher manifestierte sich das am Talende in militanten Aktionen, wie sich eine Bekannte erinnert: Vor über 40 Jahren fuhr sie, junge Krankenschwester in Biel, in einem VW Käfer mit Arbeitskolleginnen nach Saint-Imier, in den Ausgang. Ihre Mundart verriet sie als Auswärtige, weshalb sie mit Rüebli beworfen wurden: «Wir haben hier keine Bären, geht zurück!», rief man ihnen aus einem Fenster zu.
Geschichtsträchtiger Ort für Linke
Ob Saint-Imier heute noch gespalten ist? Ein Streifzug durchs Uhrmacherstädtchen widerlegt das. Die Jungen, die wir treffen, sind entweder für Bern oder ihnen ist die Abstimmung völlig gleichgültig. «Je m’en fous», hört man viele sagen. Und das selbst im Espace Noir, diesem traditionsreichen linken Kulturzentrum, wo der Geist des Widerstands historisch bedingt ist: Denn in Saint-Imier fand 1872 ein bedeutender Anarchistenkongress statt, wurde die antiautoritäre Internationale gegründet. Hier hatten einst die Arbeiter der Uhrenfabrik Longines aufbegehrt und sich gewerkschaftlich organisiert.
Bei unserem Besuch im Espace Noir findet im Keller ein Kinoabend statt, ein Dokfilm über den jurassischen Anarchisten André Bösiger wird gezeigt. Sind sie, die Anarchisten, für den Beitritt zum Jura? «Je m’en fous» hören wir einmal mehr. Dem Punk an der Theke ist es egal. Ihm liegen grössere Fragen, eine andere Weltordnung am Herzen. Und am kommenden Wochenende die Annahme der 1:12-Initiative.
Will Sankt-Immer noch immer am Zipfel von Bern hängenbleiben? Nicht ganz. Irgendwo hier muss es einen Jurasympathisanten geben. Denn beim Abstieg zu den Toiletten erblicken wir ein Graffiti-Tag: Jura sud – Jura libre. Immerhin.
(Bild: Anthony Bertschi)
Unsere erste Reise führte uns von Biel (A) über Corgémont (B), St. Imier (C), den Mont Soleil (D) bis La Ferrière (E). (Bild: Google Maps)