In einem Flüchtlingslager trifft unser Kolumnist die Menschen hinter den Schlagzeilen. Wegen Hetze und Gleichgültigkeit geht in Griechenland eine ganze Generation vor die Hunde, stellt er fest.
Die jungen Männer in Thessaloniki sind am Arsch. Auch die einheimischen – im Vergleich zum westeuropäischen Wohlstands-Kid –, aber ich spreche hier von den Flüchtlingsmännern. Und hier ist es wieder, das Wort Flüchtling.
Die Manifestation und gleichzeitige Degradierung dieser inexistenten Kreatur geht munter weiter. Gerade haben wir zwei Exemplare dieser Spezies hinter uns gelassen. Ich war mit dem Luzerner Rapper Mimiks ein paar Tage in den Flüchtlingslagern um Thessaloniki. Wir haben die Leute der Hilfsorganisation Schwizerchrüz getroffen, in den Camps Konzerte gespielt und Workshops gegeben.
Das schönste Erlebnis war wohl das muntere Herumhängen mit den Jungs in einer Art improvisiertem Mini-Jugendtreff im Camp Frakapor. Wir haben gewitzelt, uns gegenseitig Videos gezeigt, über Musik und Frauen gesprochen. Danach haben wir spontan ein Taxi gerufen und verbrachten zu viert eine Partynacht in Thessaloniki (sponsored by Schweizer Franken – die Jungs leben weit unter dem Existenzminimum).
Wechselbad der Gefühle
Die Jungs hiessen Milat und Shero, 17 und 19, klug, aufgestellt, witzig, gute Schulbildung. Sie sind alleine, wurden wegen oder während der Flucht aus Syrien von ihren Familien getrennt. Bei unserer Abreise hatten sie Tränen in den Augen, versicherten uns, dass das die besten Tage der letzten Jahre waren, und schickten uns Herzen per WhatsApp hinterher.
Sie waren Studenten, Ladenbesitzer, Lehrer, Künstler, Bauern. Dann kam der Krieg.
Mimiks und ich fuhren in einem Wechselbad der Gefühle zurück nach Athen. Zum einen waren wir glücklich, dass wir diesen Menschen für kurze Zeit eine schöne Zeit bescheren konnten, zum anderen hatten wir ein schlechtes Gewissen, weil wir im Gegensatz zu ihnen in unsere Wohlstandswelt zurückfliehen konnten. Natürlich fragte ich mich auch permanent, ob wir gerade bei Milat und Shero mehr Schaden als Freude angerichtet hatten, da sie nach diesen Tagen des Lachens und dieser Partynacht in ein vielleicht noch grösseres Loch fallen, wenn der triste Lageralltag sie wieder einholt.
Momentan noch bei Minusgraden. Es ist unglaublich, was diese Menschen ertragen müssen. In Frakapor harren vor allem Syrer aus. Meist «christlicher» Kultur. Meist Mittelstand. Sie waren Studenten, Ladenbesitzer, Lehrer, Künstler, Bauern. Dann kam der Krieg, ihre Häuser wurden zerbombt, ihre Angehörigen verfolgt und getötet. Sie konnten fliehen. Zu Fuss, mit Schleppern. Die Kinder und die wichtigste Habe in den Armen.
Gerüche aus der Hölle
Dann der Aufenthalt in der Türkei als geduldete, aber teils verhasste und ausgebeutete Fremdkörper. Die Überfahrt in überfüllten Booten. Panik. Dunkelheit. Schüsse. Sinkende Boote. Dann die Ankunft auf Griechenlands Inseln. Zum Beispiel Lesbos. Den Boden küssen. Hoffnung schöpfen, um dann in den Lagern wie Moria wie Vieh zusammengepfercht zu werden. Auf einen Stempel warten, wochenlang, monatelang. Auf der Strasse schlafen, zu wenig zu essen. Mit Kindern in der Kälte.
Dann endlich die Möglichkeit, aufs Festland zu gehen. Zum Beispiel nach Sindos, einem Vorort von Thessaloniki. Zeltlager in einer dunklen Halle. Hunderte Menschen. Ein Lager ist direkt neben der Kläranlage. Bestialischer Gestank. Dasselbe im zweiten Lager. Eine Firma produziert im grossen Stil Sülze aus Unmengen von Schlachtabfällen. Gerüche aus der Hölle.
Lethargie und Trostlosigkeit sind omnipräsent. Die heruntergekommene Gegend, die Farben Dreck-Gelb und Grau komplettieren die Höllenvision.
Nebenan hat ein syrischer Flüchtling, der früher eine grössere Käseproduktion besass, eine improvisierte Käserei eingerichtet. Sein Halloumi ist besser als jener im Touristen-Restaurant in der Stadt. Die Bewohner der Lager haben mit der Hilfe von Menschen wie Michael Räber und seinem Schwizerchrüz-Team einen Mikrokosmos geschaffen.
Eine Struktur. Etwas wie eine Gemeinde. Es gibt einen Kindergarten, ein Gym, eine Kleider-Boutique, einen Dorfladen. Alles immer mit rudimentärsten Mitteln und mit einem ausgeklügelten und realistischen Punkte-Bezahlungssystem. Diese Dinge sind so unglaublich wichtig für die Moral und den Überlebenswillen dieser Menschen.
Denn Lethargie und Trostlosigkeit sind omnipräsent. Die heruntergekommene Gegend, die Farben Dreck-Gelb und Grau des ungewöhnlich winterlichen Thessaloniki komplettieren die Höllenvision. Diese Menschen harren hier zum Teil seit über einem Jahr aus. Gerade bricht ein Mann in Tränen aus. Er darf endlich ins Zentrum ziehen. Seine Situation wird nicht viel besser werden, aber es ist eine Veränderung. Ein Hoffnungsschimmer.
Himmelschreiende Hetze und Gleichgültigkeit
Die Menschen werden immer wieder zu Vorstellungsgesprächen aufgeboten und dann willkürlich in eines von acht wählbaren Ländern eingeteilt. Oder müssen in Minutenfrist entscheiden, ob sie nun nach Bulgarien oder Irland wollen.
Junge Männer, die keine Angehörigen in einem europäischen Land haben, trifft es am schwersten. Zum Beispiel Milat und Shero. Sie haben eine schlimme Zeit hinter sich und eine zum Verzweifeln schwere vor sich. Schändlich verschwendetes Potenzial. Die Hetze und Gleichgültigkeit in den reichen europäischen Ländern sind himmelschreiend.
Eine ganze Generation geht vor die Hunde, wird eine Problem-Generation. Das wird dann vermehrt zu negativen Schlagzeilen führen und die Mühlen der rechten Hetzer antreiben. Die Hauptschuld trägt die zynische oder populistische Ansicht, dass es Flüchtlingen nicht zu gut gehen dürfe. Sonst kommen alle! Absoluter Schwachsinn. Keiner nimmt das auf sich, nur weil es ihm dann auf unsere Kosten ein bisschen besser ginge.
Aber eben: Flüchtlinge müssen leben wie Flüchtlinge. In heruntergekommenen Wohnungen, idealerweise in Zelten und in zerlumpter Kleidung. Am Rande des Ortes, bei der Kläranlage. Die dürfen nicht einfach so reisen. Die sind ungebildet und lästig bis gefährlich. Eine der fatalsten Fehlannahmen der Neuzeit.
Diese Menschen schaffen es, in einem eiskalten schäbigen Lager neben den Schlachtabfällen eine funktionierende Mikro-Gesellschaft aufzubauen. Gerade die junge Generation hätte ein Riesenpotenzial für Europa. Wenn sie doch nur reisen dürften, wenn doch nur die Grenzen und die Herzen offen wären, wenn es doch nur eine sichere Route und eine Perspektive gäbe für Menschen wie Milat und Shero.