Schicksalsjahre für die Schweiz

Wir müssen uns in den kommenden Jahren entscheiden: Wollen wir in einem rückwärtsgewandten isolationistischen oder in einem offenen und zukunftsgerichteten Land leben?

Die Schweiz muss ihre Rolle in Europa reflektieren: Fahnenschwinger am Ufer des Sarnersees. (Bild: URS FLUEELER)

Wir müssen uns in den kommenden Jahren entscheiden: Wollen wir in einem rückwärtsgewandten und isolationistischen oder in einem offenen und zukunftsgerichteten Land leben?

Vergangenen Freitag sind zwei gewichtige Erklärungen zum weiteren Vorgehen in der Gestaltung des Verhältnisses der Schweiz zur EU abgegeben worden. Die eine kam – im Namen des einstimmigen Bundesratskollegiums – von Justizministerin Simonetta Sommaruga, die andere von ihrem Vorvorgänger Christoph Blocher, angeblich im Namen des Volkes. Die eine kam aus dem zentralen Bern, die andere aus dem abgelegenen Wäggital (SZ).

Es sind Botschaften, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die Landesregierung zuvor 25 Verbände und Organisationen angehört und 50 verschiedene Modelle geprüft hatte, war dem SVP-Patriarchen im Voraus und schon immer alles klar: Es drohe der schleichende EU-Beitritt, die Missachtung des Volkswillens bedeute Diktatur. In stiller Anerkennung berichtete die «Basler Zeitung», das seien Sätze «wie eine Streuwaffe» gegen Bundesrat, Parlament, Bundesgericht und Wissenschaft gewesen.

Blochers Basler Blatt glänzte bei diesem Bericht mit sprachlichem Widersinn, wenn es titelte «Alle für einen, einer gegen alle». Zu den einen «Allen» gehören die Blocher-Anhänger, zu den anderen die Gegner der Blocher-Ideologie.

Dass der Bundesrat den Familiennachzug nicht einschränken will, ist im Einklang mit der angenommenen Initiative.

Unbewusst schwang da die alte Winkelried-Parole mit, die eigentlich lautete: «Einer für alle, alle für einen.» Der tiefe Unterschied liegt aber darin, dass der historische Held bei seinem Opfergang umkam, der Held vom Wäggital aber nach seinem Erfolg gegen den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 erneut sein Lebensgefühl steigern will.

Wesentlich ziviler erklärte Sommaruga, dass die Landesregierung die Initiative gegen Masseneinwanderung wortgetreu umsetzen und sich strikt an die neuen Verfassungsartikel (Art. 121a und Art. 197) halten werde. Das heisst: ab Februar 2017 (also nach den drei vorgeschriebenen drei Jahren seit Annahme der Initiative) mit Kontingenten, jährlichen Höchstzahlen und Inländervorrang auf dem Arbeitsmarkt. Dass der Bundesrat den Familiennachzug nicht einschränken will, ist ebenfalls im Einklang mit der angenommenen Masseneinwanderungsinitiative, da diese dazu nur eine «Kann»-Formulierung enthält.

Der Bundesrat will nun versuchen, eine Umsetzung mit diesen Eckwerten in Brüssel vorzutragen und durchzubringen. Dazu soll noch vor den Sommerferien ein Verhandlungswunsch angemeldet und bis zum Herbst ein Verhandlungsmandat ausgearbeitet werden. Das Umsetzungsgesetz zur Initiative dagegen soll erst gegen Jahresende entworfen und in die Vernehmlassung geschickt werden.

Permanenter Streit statt Lösungen

In dieser Reihenfolge haben die Initianten nun sogleich Verrat gewittert, weil man doch nicht mit der EU verhandeln könne, solange die Lösung im Inland noch nicht stehe. Vorweg genommene Konsultationen könnten aber durchaus die Funktion haben, dass man feststellen kann, wie weit (oder um wie viel man zu weit) gehen kann, ohne auf der Gegenseite auf totale Ablehnung zu stossen.

Als selbstschädigend wurde zudem beanstandet, dass Sommaruga die Verhandlungen mit der EU vorweg als schwierig eingestuft habe. Die SVP unterstellt dem Bundesrat, dass er mit diesem Vorgehen bewusst ein Nein aus Brüssel provoziere, um dann zu der an sich noch immer geltenden Personenfreizügigkeit «zurückkehren» zu können. Alles sei mit Brüssel abgesprochen, glaubte SVP-Generalsekretär Martin Baltisser bereits Anfang Mai zu wissen. Und Blocher giftelt aus dem Wäggital: «Die Politiker in Bern sagen nicht, was sie denken. Und sie denken nicht, was sie sagen.» Ist mit einem solchen Gegenüber eine Verständigung möglich?

Nicht die SVP, die das Unmögliche fordert, wird für das Scheitern verantwortlich gemacht, sondern Bundesbern. 

Wenn das Unmögliche, nämlich die Verletzung der Personenfreizügigkeit und dennoch die Rettung der restlichen Bilateralen mit dem freien Marktzutritt, sich als nicht möglich erweisen sollte, ist im vorneherein klar, dass nicht diejenigen, die dies gefordert haben, für das Scheitern verantwortlich sind, sondern die Leute von Bundesbern, die eben schlecht verhandelt haben. So einfach ist das.

Die Forderung nach einem Gesetz ohne jedes vorgängige Ventilieren in Brüssel ist typisch für die Haltung der egomanen Schweiz-Verteidiger. Sie meinen, ihren Standpunkt ohne Kenntnisnahme des realen Umfeldes durchsetzen zu können. Zugleich ist es ihnen aber nicht recht, wenn dieser Standpunkt beim Wort genommen wird, weil sich dann ja zeigen könnte, dass er eben unrealistisch ist.

Darum wünschen sie nach ihrem Triumph an der Urne jetzt bloss eine «flexible» Umsetzung und beschuldigen die Institutionen, wenn sich zeigen wird, dass das ursprüngliche Begehren nicht umgesetzt werden kann. Den ewigen Verächtlichmachern kann man es nie recht machen: Ist man konsequent, dann kommt der Vorwurf, den Volkswillen zu ernst zu nehmen; ist man flexibel, dann kommt der Vorwurf, den Volkswillen zu wenig ernst zu nehmen. Diese Art von Politik will gar keine Lösungen, sondern bloss permanenten Streit und die Stärkung der eigenen Anhängerschaft. Wirkung und Macht als Selbstzweck.

Wahlen als nationaler Test

Bundespräsident und Aussenminister Didier Burkhalter hat schon im Mai  angekündigt, dass es wohl 2016 eine Volksabstimmung zur Bestätigung der jetzt in Frage gestellten Bilateralen geben werde. Im Falle eines positiven Ausgangs hätte dies zur Konsequenz, dass der Schweiz die Umsetzung des Entscheids vom 9. Februar erspart bliebe. Bis dann wird freilich noch vieles geschehen. Zunächst müsste Brüssel zu den vorgesehenen Einwanderungsbeschränkungen Stellung nehmen. Sofern es überhaupt ein Eintreten gäbe und Modifikationen vorgenommen würden, müssten das Europäische Parlament und 28 nationale Parlamente mit der Vertragsänderung einverstanden sein. Das ist unwahrscheinlich.

Kommt hinzu, dass die EU mit ihrem neu gebildeten Parlament, ihrer noch nicht gebildeten Kommission, dem Ukraine-Konflikt, den Problemen in der Türkei und den Kriegen in Syrien und Irak andere Sorgen und Prioritäten hat. Die Schweiz wird warten müssen. Von Unternehmerseite wird aber bereits darauf hingewiesen, dass diese Ungewissheit für die Wirtschaft schädlich sei.

Die zweitbeste Lösung für die Schweiz wäre ein solider, mit einem Rahmenabkommen versehener Bilateralismus.

Es gibt aber auch eine breitere politische Ungewissheit. Die kleine, in hohem Mass mit der Aussenwelt verflochtene Schweiz ist darauf angewiesen, möglichst ruhige, dauerhafte und verstetigte Beziehungen zur EU der 28 zu haben. Die beste Lösung wäre sicher eine EU-Mitgliedschaft. Wenn diese aber nicht möglich ist, dann als zweitbeste Lösung eben ein solider und das heisst mit einem Rahmenabkommen versehener Bilateralismus. Zurzeit ist aber auch diese Lösung wegen den Anti-EU-Rhetorikern der SVP und der Vogel-Strauss-Haltung eines Teils des Stimmvolks gefährdet.

Im Herbst 2015 wird es nationale Wahlen geben, und diese werden ein nationaler Test für die verschiedenen Lager sein. Solche Wahlen, die ja Bestellungen der Eidgenössischen Räte sind, werden in der Schweiz nur halbwegs ernst genommen, weil man mit dem Mittel von Referendum und Initiative immer noch die Möglichkeit hat, im Bedarfsfall sein eigenes Wählervotum zu korrigieren. Das dürfe 2015 nun leicht anders sein.

Verteidigungs- und Rückzugsreflexe

2015 werden übrigens noch drei historische Gedenkmomente anstehen: zur Schlacht von Morgarten (1315), zur Schlacht von Marignano (1515) und zum Ende der Schlachten des Zweiten Weltkriegs (1945). Die ersten beiden Gedenken werden sicher zur Mobilisierung von Verteidigungs- und Rückzugsreflexen genutzt werden. Das Gedenken zum Ende des Krieges in Europa könnte dabei untergehen.

1995 war selbst in der Schweiz ein gewisses Bewusstsein vorhanden, was der Kriegsausgang von 1945 auch für unser Land bedeutete; 2005 blieb davon wenig übrig. Und 2015? Nationalrätin Jacqueline Fehr (SP/ZH) hat den diesjährigen 8. Mai, den Tag des Kriegsendes, zum Anlass genommen, um die Erwartung zu lancieren, dass sich der Bundesrat im kommenden Jahr im Verbund mit Europa an Gedenk- und Dankesfeiern beteilige. Diese würdigen die Kräfte, «welche damals und seither zum europäischen Friedenswerk beigetragen haben, indem sie Institutionen aufbauten, welche neue Kriege unmöglich machen sollen».

Die nationalen Wahlen vom Herbst 2015 bieten all jenen, die erschrocken sind über die wahrscheinlichen Konsequenzen der Abschottungsinitiative, die Gelegenheit zu erklären, welche Schweiz sie denn haben wollen. Blocher und seine Anhänger haben das begriffen. Haben es alle anderen ebenfalls gemerkt?

Die Schweiz steht am Anfang ihrer zwei wichtigsten Jahre ihrer Geschichte – seit 1992. Wir werden uns für eine zurückgewandte isolationistische oder eine zukunftsorientierte moderne Schweiz entscheiden müssen.

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