Schläft Europa, während die äussere Rechte erwacht?

Vater und Tocher Le Pen spielen geschickt «Die Schöne und das Biest». Während sie sich auf regierungstauglich trimmt, hält der Alte Rassisten und Judenhasser bei Stange. Eine gefährliche Kombination.

Die «Schöne» und das Biest: Wenn der alte Le Pen Juden bepöbelt, ist das für die Tochter nur «ein politischer Fehler». (Bild: JEAN-PAUL PELISSIER / Reuters)

Der Front National ist auch für bürgerliche Franzosen wählbar geworden, doch der alte Le Pen hetzt weiter gegen Juden. Wirtschaftskrise, geschwächter Mittelstand und eine «unverbrauchte Rechte, die doch auch mal regieren könnte», wecken Erinnerungen an dunkle Zeiten.

Jean-Marie Le Pen vom Front National hat wieder einmal einen seiner antisemitischen Sprüche abgesondert. In Anspielung an die NS-Vernichtungsöfen erklärte er, dass wieder einmal eine Ofenladung («une fournée») fällig sei. Doch statt das Ausmass an Antisemitismus im Front National und in Europa im Allgemeinen zu thematisieren, reduzierten die meisten Medien den Vorfall auf eine Homestory.

Im Zentrum der Diskussion stand nämlich die Frage, wie sehr der Alte, immerhin Ehrenpräsident des FN, der jetzigen Führerin dieser Partei, die seine Tochter ist, das politische Geschäft erschwere. Besonders dramatisch veranlagte Journalisten warfen gar die Frage auf, ob der alte Le Pen seine Tochter Marine mit seinen Äusserungen zu Distanzierungen, vielleicht gar zum «Vatermord» nötige.

Politische Arbeitsteilung

Die Tochter hat sich distanziert. Aber nur halbwegs. Für sie war die Bemerkung bloss ein politischer Fehler («une faute politique»). Inzwischen sind die Scheinwerfer der Medien wieder auf anderes gerichtet. Der Alte aber redet weiter und bleibt uneinsichtig. Wie andere Täter gibt er sich selbst als Opfer und doppelt – wiederum antisemitisch – nach. Er findet nämlich, dass man Juden doch kritisieren dürfe, und wirft ihnen so vor, für sich immer einen Sonderstatus zu beanspruchen. Seiner Tochter verzeiht er grosszügig den kleinen Ordnungsaufruf und findet, dass die Marine mit ihrer klugen Reaktion nur gezeigt habe, wie sehr sie bereits Regierungsstatur habe.

Die Wochenzeitung «Nouvel Observateur» hat wohl recht, wenn sie schreibt, dies sei nur ein Beispiel der bekannten Kommunikationsstrategie der Rechtskonservativen, die einen Teil ihres Erfolgs darauf gründen, dass sie permanent in den Medien sind. Er sieht in solchen Zwischenfällen nämlich eine Art Arbeitsteilung, in welcher Vater Le Pen die alte Garde bei der Stange halte, er spricht sogar von einem Tennismatch, in dem Vater und Tochter sich gegenseitig die Bälle zuspielen. Eine Variante von «La belle et la bête» also, denn die Marine gibt als Jeanne d’Arc die nationale Schönheit, der Vater spielt das nationale Monster – und ist es auch.

Sicher sind nicht alle Supporter des FN Rassisten. Aber alle Rassisten können sicher sein, hier gut aufgehoben zu sein.

Nicht weniger schockierend als die Primäräusserungen des Alten sind die folgenden Blogger-Stimmen, natürlich in überwältigender Mehrheit für das Monster: Le Pen habe doch gar nicht von Gas gesprochen! Und wo denn die Meinungsäusserungsfreiheit bleibe! Die Täterseite meint einmal mehr, sich als Opfer von Intrige und Repression stilisieren zu können. Die Anhänger des FN sagen, dass ja nicht alle so extrem seien, und klagen, obwohl sie gerne pauschal über andere (zum Beispiel die Roma) herziehen, Opfer von Pauschalurteilen zu sein.

Gleichheit heisst, der Franzose kommt zuerst

Sicher sind nicht alle Supporter des FN Rassisten. Aber alle Rassisten können sicher sein, hier gut aufgehoben zu sein, solange sie ihre Überzeugungen nicht allzu offen an den Tag legen. Klar, dass auch ein Le Pen gern betont, kein Rassist zu sein; er versteht sich auch nicht als fremdenfeindlich, seine Formel lautet: «Wir sind für Frankreich.»
Die junge Le Pen verwendet durchaus ähnliche Codes, wenn sie erklärt, dass sich die Franzosen in Frankreich wieder sollten zu Hause fühlen können. Und zu Hause ist man nach diesem Verständnis nur, wenn man «als Erste» bedient wird. Das ist ihre Formel für das alte Gleichheitsgebot der «égalité».

Wenn die neue NF-Chefin von einem politischen Fehler spricht, ist das bloss eine relative Distanzierung, die aus taktischen Erwägungen erfolgt. Es ist eine schädliche Äusserung, aus Marines Sicht aber schädlich nicht primär für die Juden, sondern für den FN in seiner gegenwärtigen Situation.

Fehler oder nur ein Verbrechen?

Charles-Maurice de Talleyrand, der im frühen 19. Jahrhundert als französischer Aussenminister amtete, wird das geflügelte Wort zugeschrieben, wonach etwas schlimmer sei als ein Verbrechen, nämlich eben ein Fehler («C’est pire qu’un crime, c’est une faute»). Dieses Bonmot bezog sich auf einen politischen Mord. Heute müssen wir uns daran erinnern, dass «bloss» verbaler Antisemitismus vor noch nicht allzu langer Zeit die Vorstufe zum Massenmord gewesen ist.

Der Holocaust ist nach der Meinung des alten Le Pen allerdings auch nur ein «Detail der Geschichte», wie er 1991 äusserte. Und jetzt reklamierte er für sich das Recht, so reden zu dürfen, wie ihm sein Schnabel gewachsen sei. Was dieser Schnabel rauslässt, füttert seinerseits die alten Ressentiments, welche die Gesellschaft vergiften und für die direkt Betroffenen – die Juden – das Leben gefährlich machen.

Das alles hatten wir schon einmal: Wirtschaftsdesaster und Zerstörung von Mittelschicht-Existenzen sowie Rechtsextreme, denen man eine Chance zum Regieren geben wollte.

Die Stärke des FN ergibt sich zu einem grossen Teil aus der Schwäche der anderen, der sozialistischen wie der bürgerlichen Kräfte. Antisemitismus verurteilt man zwar, aber die Zwillings- oder Drillingsvarianten des Rassismus (etwa gegen Roma und Muslime) duldet man. Ihre Schwäche hat zwei Seiten: einmal wenig eigene Überzeugung und zum anderen die fatale Meinung, «bewegende Themen» nicht anderen überlassen zu dürfen. Einen Teil seiner Stärke bezieht der FN auch aus der Schwäche der französischen Wirtschaft sowie aus der einfachen Tatsache, dass er noch nie an der Macht war, also unverbraucht ist, und man ihm «doch auch einmal eine Chance geben» sollte.

Misere als Rechtfertigung

Das alles hatten wir schon einmal: Wirtschaftsdesaster und flächendeckende Zerstörung von Mittelschicht-Existenzen sowie Rechtsextreme, denen man eine Chance zum Regieren geben wollte. Die Analogie erstreckt sich auch auf den Anspruch, dass man das Volk endlich wach gerüttelt habe und dieses sich nun aufmache, die ursprüngliche nationale Stärker zurückzuerobern. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» wagte die Schlagzeile, dass der «Camembert-Faschismus» gesiegt habe, im Artikel selber wird aber ein Bezug zu den historischen Vorläufern nicht hergestellt.

Aus ökonomisch gesicherter Lage ist es gewiss leichter zu sagen, dass Misere keine Rechtfertigung für Rechtsextremismus sein dürfe. Wenn es um Ableitungen rechtsextremer Haltungen aus ökonomischen Zuständen geht, muss – auch mit Blick auf die Schweiz – darauf hingewiesen werden, dass es weniger die wirklich Notleidenden als die scheinbar oder tatsächlich vom sozialen Abstieg bedrohten Leute sind, die auf Heilsversprechungen der äusseren Rechten zustimmend reagieren.

Von den Bürgerinnen und Bürgern darf aber auch erwartet werden, dass sie weitgehend unabhängig von der wirtschaftlichen Grosswetterlage eine eigene ethische Position in sich tragen und diese sowohl elementaren moralischen Standards als auch historischer Erfahrung entspricht.

Das braune Bett am rechten Flügel

Nachdem der FN unter anderem mit Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einen Teil seiner Wähler geholt hat, will er jetzt den Weg zur Mehrheit und vielleicht zur Macht mit etwas weniger Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gehen. Dort angelangt kann er dann wieder vermehrt sein wahres Gesicht zeigen.

Kürzlich ist es ihm immerhin gelungen, aus Frankreichs Europawahlen als stärkste Kraft hervorzugehen. Im Moment stehen die Fraktionsbildungen an, und es  stellt sich die Frage, wer auf dem rechten Flügel sich mit wem ins braune Bett legt. Man wird auch darauf achten müssen, ob ein paar von ganz rechts sogar Unterschlupf bei der Europäischen Volkspartei, dem Zusammenschluss von christlich-demokratischen und konservativ-bürgerlichen Nationalparteien, finden.

Es mag paradox erscheinen, dass sich Erznationalisten transnational gegenseitig beleben und sich ihr Ungeist wechselseitig stützt – von der Ukraine und Ungarn über die Schweiz nach Belgien und die Niederlande. Am schwächsten ausgeprägt ist dieses Phänomen in Deutschland, weil hier die historische Erfahrung bremsend wirkt. In Belgien hingegen ist der Antisemitismus besonders virulent. Wie auf «Spiegel Online» am 26. Mai 2014 zu erfahren war, ertönte im Januar 2014 auf der Fahrt von Lüttich nach Brüssel plötzlich die heimlich eingespeiste Lautsprecherdurchsage: «Sehr geehrte Damen und Herren, wir erreichen Auschwitz. Alle Juden werden gebeten, auszusteigen und eine kleine Dusche zu nehmen.» Die  Täter konnten nicht identifiziert werden.

Bekenntnis oder Propaganda

Frankreich und Belgien sind überall, also auch in der Schweiz, wenn auch weniger offensichtlich. Kürzlich, im Mai 2014, wurden wir daran erinnert, als das Bezirksgericht Uster einen Stadtzürcher SVP-Schulpfleger (der sein Amt inzwischen niedergelegt hat) zu bedingten 75 Tagessätzen verurteilte, weil er im Sommer 2012 über Twitter verbreitete: «Vielleicht brauchen wir wieder eine Reichskristallnacht … diesmal für Moscheen». Das Gericht befand, der Mann habe mit seinem kurzen Satz die Würde sowohl der muslimischen als auch der jüdischen Gemeinschaft verletzt.

Das jüdische Wochenblatt «Tachles» meinte in seinem Kommentar, dass eine solche Verurteilung am misanthropischen Weltbild des Täters wohl nichts oder wenig ändern werde: «Aber sie macht auch Uneinsichtigen klar, dass der Schweizer Gesetzgeber rassistisches Gedankengut sanktioniert, sobald es öffentlich verbreitet wird.»

Leider ist das inzwischen auch nicht mehr so sicher, seit das Bundesgericht in einem Urteil am 28. April 2014 befand, dass ein öffentlicher Hitlergruss auf dem Rütli während einer Versammlung der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) kein Vergehen sei, weil bloss als Bekenntnis (für sich selber) und nicht als Propaganda (gegenüber anderen) gemeint.

 

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