Ein Jahr nach der Krim-Annexion scheint ein neuer Kalter Krieg zu drohen, doch die Ausgangslage hat sich verändert: Die Welt ist nicht mehr ideologisch zweigeteilt und Russland hat seine Rolle als Supermacht eingebüsst.
In den letzten Monaten ist schon mehrfach die Sorge geäussert worden, dass der Kalte Krieg zurückkommen könnte. Oder sogar die Befürchtung, dass wir bereits mitten drin stecken. Darum auch die Zurückhaltung im Urteil über den Ost-West-Konflikt, der sich seit der Annexion der Krim vor einem Jahr wieder verschärft hat. Man möchte keine Neuauflage von Verhältnissen, wie sie – mit ihren Konjunkturen – in den Jahren 1945 bis 1989 geherrscht hatten, das heisst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur grossen Wende.
Dazwischen gab es bekanntlich die eine oder andere Zuspitzung: 1961 etwa den Bau der Berliner Mauer oder 1962 die Kuba-Krise. An Letztere konnten wir uns erinnert fühlen (und das war wohl auch der Zweck der Aussage), als Kremlchef Putin kürzlich erklärte, dass er ohne Zögern auch Atomwaffen eingesetzt hätte, wäre ihm der Westen bei der «Heimholung» der Krim entgegengetreten. Es wurde in westlichen Medien gesagt, dass nie während des Kalten Kriegs eine Seite so leichtfertig mit der Idee gespielt habe, die schreckliche Massenvernichtungswaffe einzusetzen.
Drohung mit der Atomkeule
Immerhin hatte die Sowjetunion in der Suez-Krise von 1956 gegenüber Frankreich und Grossbritannien von diesem Mittel Gebrauch gemacht und damit auch die USA erschreckt. Heute ist die Gefahr eines Atomkriegs zwischen Ost und West weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein entlassen worden. Offensichtlich ist aber bei der schwächeren Seite die Versuchung geblieben, mit der Atomkeule zu drohen. Russland ist im aktuellen Konflikt zwar die aggressivere, aber alles in allem doch die schwächere Seite.
Die Gefahr, dass es leicht zu einem grossen heissen Kriegs kommen könnte, gehörte indessen nicht zu den Hauptcharakteristika des Kalten Kriegs. Die wichtigsten Eigenheiten waren vielmehr die klare und feste Teilung der Welt in zwei ideologisch gegensätzliche Lager. Klare und feste Teilung, wie sie in den Jahren 1917 bis 1941 bestand und nur vor dem Hintergrund einer wenig soliden Kooperation gegen Hitler 1941 bis 1945 nicht mehr als Normalität eingestuft wurde.
Im Vordergrund stand nicht der heisse Ernstfall, sondern die gegenseitige Bekämpfung mit den Mitteln des Propagandakriegs.
Auf beiden Seiten gab es und gibt es konventionelle und atomare Hochrüstung, um in einem heissen Ernstfall nicht unterlegen zu sein. Im Vordergrund stand aber gegenseitige Bekämpfung mit den Mitteln des Propagandakriegs. Dabei war – auch im Westen – die Disziplinierung des eigenen Lagers mindestens so wichtig wie die Kampagne gegen den äusseren Feind. Diese innergesellschaftliche Funktion hat ohne Zweifel die Ukrainefrage wiederum für das russische Regime. Auf der westlichen Seite spielt die Ukraine nicht diese Rolle, die Regierungen setzen sie nicht zur Machtstabilisierung ein und könnten damit auch keine Erfolge erzielen.
Dem Bild vom Kalten Krieg liegen zwei Grundvorstellungen zugrunde: Die eine ist asymmetrischer Art und sieht im einen der beiden Kontrahenten den Angreifer und im anderen den Verteidiger. Die andere Vorstellung ist symmetrischer Art und verteilt aggressive und defensive Haltungen einigermassen gleichmässig auf beide Seiten. Obwohl sich die unterschiedlichen Vorstellungen im Prinzip gegenseitig ausschliessen, dürften beide eine gewisse Berechtigung haben.
Typisch «Westen»
Für die Mehrheit im Westen, der sich neuerdings wegen Russlands Vorgehen doch wieder vermehrt als gemeinsames Lager versteht, ist klar, wie die Rollen von Aggression und Abwehr verteilt sind. Auch der Schreibende hat da keine Zweifel. Es gibt aber – für den «Westen» typisch – auch Stimmen, die gerne das eigene Lager für den aktuellen Konflikt in der west-östlichen Übergangszone verantwortlich machen. Die Nato sei zu nahe an Russlands Sicherheitsgrenze herangerückt und habe dabei ein 1990 gegebenes Wort gebrochen.
Eine dieser Stimmen gehört der Publizistin Gabriele Krone-Schmalz und ihrem Buch «Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens» (Beck 2015). Ein Hauptargument der ehemaligen Moskau-ARD-Korrespondentin: Die USA hätten 2003 gegen den Willen Russlands den Irak angegriffen und unilateral den Weltpolizisten gespielt. Jetzt wolle Russland mit seinen expansiven Schritten, die sich nicht auf die Ukraine beschränken, die verlorene Rolle als Weltmacht zurückgewinnen. Da schliesst der Vorwurf an, der amerikanische Präsident habe Russland unnötig in der Öffentlichkeit als Regionalmacht abqualifiziert.
Das bei Krone-Schmalz stark vorhandene Bedürfnis, das eigene Umfeld zu belehren, macht sie zu einer schwer erträglichen Gegenstimme. Wir müssen aber irgendwie auch froh sein, dass es im Westen ein dissidentes Russlandverständnis dieser Art gibt. In Russland haben analoge Gegenstimmen keine Chancen. Sie werden nicht alle gleich ermordet wie Boris Nemzow oder Anna Stepanowna Politkowskaja. Sie kommen aber nicht in die Talkshows, und vielen wird ein alternatives Denken bereits im Ansatz unmöglich gemacht.
Russland wird von einem Komplex regiert, der in Opposition nicht ein nötiges Korrektiv, sondern eine Gefährdung sieht.
Der heute 92-jährige Historiker Ernst Nolte war in den 1970er-Jahren ein strammer Kalter Krieger, in Tauwetterzeiten also, die gerade auch im Westen als gefährlich empfunden worden waren. In einem Punkt aber hatte er recht, wenn er vom Westen sagte, die Bereitschaft, ja zuweilen sehnsüchtige Neigung, auch das Gegenteil von etablierten Meinungen zu denken, sei ein Wesensmerkmal westlichen Denkens. Eine Stärke, die zuweilen als Schwäche missverstanden wird.
Andererseits sollten wir uns nicht aus Furcht, wieder in die Muster des Kalten Krieges zu fallen, der Einsicht verschliessen, dass in Russland alte und entsprechend tief verankerte Einstellungen in hohem Mass die Politik bestimmen. Russland wird noch immer von einem intransparenten Komplex regiert, der in der Opposition nicht ein nötiges Korrektiv, sondern eine Gefährdung des Staates, das heisst seiner selbst, sieht. Innere Defizite sollen mit Hurrapatriotismus überdeckt werden. Das Ausmass der von den Massemmedien verbreiteten Manipulation und der Hetzpropaganda überbietet bei Weitem diejenige der früheren Sowjetmedien.
Nachfolge der Zaren
An der Spitze des russischen Gesellschaftssystems steht noch immer als unangreifbare Instanz ein vermeintlicher Heilsbringer, dessen Aufgabe es ist, russische Grösse und Macht und zugleich das autoritäre System zu personifizieren. Er steht in der Nachfolge der Zaren, von «Väterchen» Stalin und der folgenden, eher grauen Generalparteisekretäre, jetzt aber wieder mit der Unterstützung der orthodoxen Kirche.
Wenn man den führenden Politikern des Westens einen Vorwurf machen kann, dann sicher nicht, nach 1989 eine fortgesetzte Dämonisierung des Ostens im Stil des Kalten Krieges betrieben zu haben. Vielmehr haben sie sich von der echten Hoffnung und auch etwas naiven Erwartung leiten lassen, dass die Demokratie mit beschwingten Schritten nun auch in Russland Einzug halten würde. Wie McDonald’s und Coca Cola.
Zur Zweiteilung der Ära des Kalten Krieges gehörte, dass die Supermächte ein Paar bildeten. Das ist nicht mehr der Fall.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es während ein paar Jahren die erfreuliche Perspektive einer Annäherung zwischen West und Ost. 1997 wurde zwischen der EU und Russland das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) abgeschlossen. Jetzt stellt sich die Frage, inwiefern Konfrontation und Kooperation gleichzeitig betrieben werden können. Die Grenzen der Annäherungsmöglichkeiten sind von der russischen Seite gesetzt worden. Zu der wiederum für den Westen bezeichnenden Selbstermahnung gehört, Russland nicht aus Europa hinausdrängen zu wollen. In Russland selbst verstärkt sich aber die Tendenz, sich gegenüber Europa abzugrenzen.
Zur klaren Zweiteilung der Ära des Kalten Krieges gehörte, dass die beiden sehr gegensätzlichen Supermächte doch ein Paar bildeten, in dem sich die UdSSR als Macht auf Augenhöhe mit den USA sehen konnten. Das ist jetzt eindeutig nicht mehr der Fall. Während sich der Osten der Sowjetzeit – wenn auch mit Selbstbetrug – als Kraft der Zukunft verstehen konnte, ist das heutige Russland mit dem unerfreulichen Faktum konfrontiert, wenigstens im Moment so etwas wie der Verlierer der Geschichte zu sein. Putin hat bekanntlich das Ende des Kalten Kriegs nicht als Freudenstunde erlebt, sondern als tieftraurigen Moment, der das Ende der grossrussischen Ära eingeläutet hat.