Die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Libanon steigt und steigt. Mittlerweile benötigen mehr syrische als einheimische Kinder einen Schulplatz. Die Gastfreundschaft hat bald ein Ende, sagen Einheimische.
«Der Tod wäre besser als das Leben hier», sagt Um Ahmed verbittert. Die alte Frau mit einem kranken Bein sitzt mit einigen Nachbarn auf einem Teppich am Strassenrand. «Ich habe kein Geld für Medikamente und eine richtige ärztliche Behandlung. Es reicht gerade fürs Essen», klagt sie.
Auf dem Acker hinter ihnen nahe der Stadt Zahlé an der syrischen Grenze reiht sich Zelt an Zelt. Seit sie vor drei Jahren vor den Kämpfen aus Aleppo geflohen sind, nennt sie die 16 Quadratmeter eines Zeltes ihr Zuhause. Den Libanon und nicht die nahe gelegene Türkei hätten sie gewählt, weil sie in ein arabisches Land wollten, wo die Leute wie sie seien.
Die meisten Häuser zuhause sind inzwischen zerstört, erzählen drei Brüder, die in Syrien einst stolze Bauern gewesen waren. Hier sind sie zum Nichtstun verdammt. 70 Prozent der Männer hätten keine Arbeit. Wenn sie könnten, würden sie lieber heute als morgen nach Syrien zurück, sagt Mohammed der älteste von ihnen.
Junge Männer bieten sich als Tagelöhner an
Ein paar Steinwürfe weiter versucht sich Marwa an einer uralten elektrischen Nähmaschine. Im Schatten ihres Zeltes liegt noch der letzte Rest Eis von den heftigsten Schneestürmen seit zehn Jahren. Marwa möchte lernen, für sich und ihre sechs Kinder wenigstens die Kleider selbst zu nähen.
Die Kinder muss sie alleine versorgen. Ihr Mann lebt mit seinen zwei anderen Frauen und deren Kinder noch in Syrien. Randa auf der andern Strassenseite gehört zu den 30 Prozent Frauen, deren Männer eine Arbeit hat. Randas Mann verdiente schon vor dem Krieg sein Geld in einem libanesischen Restaurant. Beim Ausbruch der Kämpfe vor vier Jahren hat er seine junge Frau und die inzwischen acht Kinder hier in Sicherheit gebracht.
Wer keine feste Stelle hat, der versucht sein Glück jeden Tag in Zahlé auf dem Märtyrer-Platz. Dutzende junge Männer bieten sich als Tagelöhner an. Manchen, wie dem Maler mit seinem verspritzten Hemd, sieht man gleich an, wofür sie sich eigenen.
Unbeschreibliche Schneestürme
Wilde Camps schossen im Bekaa-Tal nahe der syrischen Grenze wie Pilze aus dem Boden. Sie stehen auf dem Ackerland, in Garagen oder in alten Fabriken. Es sind bereits 850 Stück, in denen 150’000 Menschen leben. Der Libanon verbietet nach wie vor die Errichtung permanenter Flüchtlingslager.
Die Geschichte der Palästinenser soll sich nicht wiederholen, die auch nach Jahrzehnten immer noch im Libanon leben. Diese improvisierten Unterkünfte bieten wenig Schutz und sind gefährlich, wenn Feuer ausbricht. An vielen Orten haben die Eigentümer zudem verboten, dass der Boden befestigt oder Entwässerungsrohre gelegt werden.
Die Zustände nach den heftigen Schneestürmen und Regengüssen im Januar waren deshalb unbeschreiblich. Öfen und Decken mussten genügen, um die schlimmsten Tage zu überstehen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat mit einem speziellen Winterhilfeprogramm versucht, die Zelte so wintertauglich wie möglich zu machen, dennoch sind Dutzende unter der Last des Schnees zusammengebrochen.
Mehr syrische als libanesische Schüler
Etwa 1000 neue Flüchtlinge hat das UNHCR-Zentrum in Zahlé – eines von vier landesweit – bis jetzt täglich neu registriert. In den letzten Tagen ist diese Zahl auf 100 gesunken, vor allem weil der Libanon eine Visumspflicht für Syrer eingeführt hat. Bis Ende Januar hatten sich über eine Millionen Syrer, etwa 80 Prozent Kinder und Frauen, registrieren lassen.
Insgesamt halten sich aber in dem kleinen Land mit nur vier Millionen Einwohnern mindestens 1,6 Millionen Menschen auf, die vor dem Krieg im Nachbarland geflüchtet sind. Das ist eine gewaltige Belastung für Ressourcen wie Wasser und Strom, aber auch Krankenhäuser, Schulen und die Müllabfuhr. Vom neusten Programm gingen deshalb 30 Prozent des Geldes an die libanesischen Gemeinden, erklärt Lisa Abou Khaled vom UNHCR-Center in Zahlé.
Eine ganz besondere Herausforderung sind die Schulen. Ziel der Hilfsorganisationen für 2015 ist es, 150’000 syrische Kinder in den öffentlichen Schulen unterzubringen, dazu sind zusätzliche Doppelschichten der Lehrer notwendig. Damit sind noch nicht alle Kinder in Schulen untergebracht. Die syrischen Kinder im Schulalter sind mit 450’000 heute schon mehr als die 350’000 libanesischen Jugendlichen, die eine öffentliche Schule besuchen. Auch Marwas Kinder tummeln sich den ganzen Tag vor dem Zelt. Die Schule sei viel zu weit weg, sagt sie achselzuckend.
Gastfreundschaft stösst an Grenzen
Die Libanesen gingen sehr gut mit den Flüchtlingen um, betonen die drei Bauern aus der Umgebung von Aleppo. Tatsächlich ist die Hilfsbereitschaft der Einheimischen gross, aber je länger die Krise dauert, je mehr stösst auch private Hilfsbereitschaft an ihre Grenze und die kritischen Stimmen mehren sich. In der Hauptstadt Beirut gibt es inzwischen Bettler an jeder Strassenecke. «Die Flüchtlinge sollen auf dem Land bleiben. Hier in Beirut nehmen sie uns die Arbeit weg und am meisten stört mich die grassierende Prostitution», sagt ein Einheimischer, dessen Geschäft darunter leidet, dass die arabischen Touristen seit dem Ausbruch der Syrienkrise praktisch ausbleiben.
Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass es unter den syrischen Flüchtlingen auch viele Sympathisanten der extremistischen al-Nusra-Front gibt, die gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad kämpft. Vor dem Hintergrund der instabilen politischen Lage im Libanon sei das wie eine Zeitbombe, warnt der Kolumnist einer der grossen Tageszeitungen in Beirut.