Schuldzuweisungen und viele offene Fragen

Am Tag nach der Flugzeugkatastrophe in der Ostukraine schieben sich alle Seiten gegenseitig die Schuld zu. Beobachter warnen, dass die Flugzeugkatastrophe den Konflikt auf eine neue, noch bedrohlichere Stufe heben führen könnte.

Die Bergungsarbeiten sind noch nicht abgeschlossen: Mitarbeiter des Katastrophenschutzes suchen nach Opfern des Flugzeugabsturzes in der Ostukraine. (Bild: MAXIM ZMEYEV / Reuters)

Am Tag nach der Flugzeugkatastrophe in der Ostukraine schieben sich alle Seiten gegenseitig die Schuld zu. Beobachter warnen, dass die Flugzeugkatastrophe den Konflikt auf eine neue, noch bedrohlichere Stufe heben führen könnte.

Kurz nach dem Unglück sah es so aus, als zeigten sich die Separatisten in der Ostukraine kooperationsbereit: Sie kündigten noch in der Nacht auf Freitag eine mehrtägige Waffenruhe an. Internationale Experten sollten den Absturz von Flug MH17 und den Tod von fast 300 Menschen untersuchen können.

Am Freitag aber war eine Aufklärung vorerst unsicher. Die Rebellen würden abwiegen, ob sie Luftfahrtexperten Zutritt zum Absturzgebiet der Boeing 777 der Malaysia Airlines gewähren sollen, hiess es. Auch eine Waffenruhe lehnten sie plötzlich ab.

Das Aussenministerium in Kiew erklärte, die Unglücksstelle sei von bewaffneten Separatisten umstellt. Regierungschef Arseni Jazenjuk warf den Rebellen vor, selbst Helfer bei der Arbeit zu behindern. «Diese Banditen lassen eine Untersuchung der Tragödie durch unsere Leute nicht zu», sagte er. Der mutmassliche Abschuss der zivilen Passagiermaschine ändert nichts an den verhärteten Fronten im Ukraine-Konflikt – im Gegenteil.

Noch fehlen definitive Beweise

Die prorussischen Rebellen bargen Medienberichten zufolge mehrere Flugschreiber und sollen sie russischen Behörden übergeben haben, damit die Geräte in Moskau analysiert werden. Man werde die Flugschreiber nicht entgegennehmen, erklärte allerdings Russlands Aussenminister Sergej Lawrow. Auch ukrainische Rettungskräfte fanden später Flugschreiber.

Führende Politiker verschiedener Länder bekräftigen Forderungen nach einer internationalen und transparenten Aufklärung des Unglücks. Kanzlerin Angela Merkel verlangte eine schnelle unabhängige Untersuchung. Für einen Abschuss der MH17 gibt es noch keine Beweise, allerdings gilt diese Ursache international am wahrscheinlichsten. Merkel sprach von «sehr, sehr vielen Indizien» für einen Angriff auf MH17. Erstmals äusserte sich auch US-Präsident Barack Obama am Freitagabend über den Vorfall. Er forderte eine sofortige Waffenruhe – und wies den prorussischen Rebellen die Schuld für den Abschuss zu.

Die Schuld schieben sich die Konfliktparteien gegenseitig zu. «Der Abschuss eines zivilen Flugzeuges ist ein Akt des internationalen Terrorismus, der sich gegen die ganze Welt richtet», sagte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Er forderte die internationale Gemeinschaft auf, seinem Land Schutz vor dem «Aggressor» Russland zu bieten.

Putin fordert «objektive Untersuchung»

Russlands Staatschef Wladimir Putin erklärte: «Zweifellos trägt der Staat, über dessen Territorium das geschehen ist, Verantwortung für diese furchtbare Tragödie.» Auch er forderte eine «umfassende und objektive Untersuchung». Putins Sprecher bezeichnete unterdessen Äusserungen, die Russland mit dem Absturz in Verbindung bringen, als «dumm».

Ukrainische Behörden veröffentlichten einen Gesprächsmitschnitt, auf dem Separatisten zu hören sein sollen, wie sie über den Beschuss eines Flugzeuges diskutieren und dann feststellen, dass es sich dabei um eine Zivilmaschine handelte. Am Freitagabend haben die ukrainischen Behörden zusätzlich ein Video veröffentlicht, dass beweisen soll, dass die Separatisten für den Abschuss von MH17 verantwortlich seien: Das Video zeige, wie die Speratatisten Beweise wegschaffen würden.

Die Authentizität der Aufnahmen ist nicht zu belegen. Sie unterstützen aber Hinweise, die zu den Separatisten führen: Diese rühmten sich am Donnerstagnachmittag noch damit, in der Unglücksregion einen ukrainischen Militärtransporter vom Typ AN-26 abgeschossen zu haben. Es könnte sich dabei um eine Verwechslung mit der Maschine aus Malaysia gehandelt haben.

Separatisten wehren sich gegen Schuldzuweisungen

Technisch möglich gewesen wäre das mit dem Raketen-Abwehrsystem «Buk», das den Rebellen vor einigen Wochen bei der Einnahme einer ukrainischen Militärbasis in die Hände gefallen sein soll – auch wenn der ukrainische Generalstaatsanwalt Witali Jarema erklärte, die Separatisten besässen keine Raketenflugabwehrsysteme vom Typ «Buk».

Die Separatisten widersprachen nach Bekanntwerden des Absturzes der Version, dass sie verantwortlich sind, und bezichtigten die ukrainische Regierung der Provokation. Dies wiederum wies die Regierung in Kiew zurück. Die Ermittler haben also viele Fragen, Widersprüche und Mutmassungen aufzulösen.

Gleichzeitig wächst die Angst vor einer weiteren Eskalation der Ukraine-Krise. «Der einzige vernünftige Schritt ist, jetzt die Kämpfe sofort zu beenden und einen politischen Prozess zu starten», erklärte Dmitri Trenin, Leiter des Moskauer Carnegie Center. «Der tragische und plötzliche Verlust so vieler Unschuldiger sollte ein Ende des bewaffneten Konflikts darstellen.» Andernfalls, so Trenin, führe die Flugzeugkatastrophe den Konflikt auf eine neue, noch bedrohlichere Stufe.

Nächster Artikel