Warum geniessen eigentlich nur politische Flüchtlinge Schutz? Haltbar ist diese Einteilung schon lange nicht mehr. Doch politisch ist sie unumstritten. Jetzt wird die Forderung laut, die gesamte Flüchtlingspolitik neu zu denken.
Die Flüchtlingsdebatte ist wieder dort, wo sie immer war: im Denkkorsett der quantitativen Regulierung. Wie viel können wir noch aufnehmen, wie viel ist zu viel? Steigen die Gesuchszahlen minimal wie in der Schweiz, bricht Hysterie aus, schon soll das Asylrecht ausser Kraft gesetzt werden.
Wer hoffte, unter dem Eindruck des Elends könnten sich Europa oder die Schweiz auf eine neue Haltung verständigen, wurde enttäuscht. Das überwältigende «Wir schaffen das» der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wird gerade durch ihre Pläne entzaubert, an der deutschen Grenze Transitzonen zu schaffen, eine Art Freiluftgefängnis, in dem im Schnellverfahren Flüchtlinge aussortiert werden.
Die Europäische Union hat erst über Verteilquoten gestritten. Einig ist man sich dann geworden, dass die Abschreckung hochgefahren gehört. Mit Milliarden Euros erkaufte Camps in der Türkei sollen die Flüchtlinge davon abhalten, Schutz in der EU zu finden; in einzelnen Staaten wird an den Grenzen wieder Stacheldraht hochgezogen.
Trichter soll verengt werden
Einig ist man sich auch, dass nur Flüchtlinge bleiben dürfen, die unter die enge Definition der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Wer an Leib und Leben bedroht sei, sei willkommen, sagt etwa SVP-Tonangeber Adrian Amstutz. Kriegsvertriebene dürften auf Zeit bleiben, «und dann gibt es die dritte Gruppe, nämlich die Wirtschafts- und Sozialmigranten, die sofort ausgewiesen werden müssen.»
Das Motiv hinter der Kategorisierung schimmert durch: Den Trichter so zu verengen, dass möglichst wenige Menschen durchpassen.
Fundamentale Neuordnung
Andere Wege werden abseits der Politik gesucht. Der auf Aussenpolitik spezialisierte Think-Tank foraus hat ein Papier vorgelegt, das sich vordergründig mit dem ungeklärten Status von Umweltflüchtlingen auseinandersetzt. Im Jahr 2013 wurden laut der UNO dreimal mehr Personen von Naturkatastrophen vertrieben als aufgrund von Gewaltkonflikten. Tatsächlich wird eine fundamentale Neuordnung der Asylpolitik und eine Abkehr von der geltenden Genfer Flüchtlingskonvention gefordert.
«Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein 60 Jahre altes Konstrukt, geschaffen im Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg, das nicht mehr in die heutige Zeit passt», sagt die junge Basler Juristin Patricia Kaiser, Co-Autorin des Diskussionspapiers. «Das Flüchtlingsrecht ist auf den Schutz politischer Flüchtlinge ausgerichtet, es setzt eine singuläre Fluchtursache voraus», heisst es im Papier.
Nur politische Fluchtgründe legitim
Das geltende Recht durchschneide die Realität mit einer roten Linie und könne die Multikausalität von Migration nicht abbilden. Es legt fest, dass nur wer aus politischen Gründen nicht in einem Land bleiben kann, etwa weil er wegen seiner Religion verfolgt wird, zur Flucht gezwungen wird. Alle anderen Migranten unterstellt es, freiwillig zu fliehen.
«Doch Flucht geschieht meistens aus mehreren Gründen», argumentiert Kaiser. Wenn etwa eine Bauernfamilie wegen anhaltender Dürre ihre Lebensgrundlage verliert, flieht sie sowohl aus ökologischen wie auch aus ökonomischen Gründen. Möglicherweise sieht sie sich auch Verfolgung ausgesetzt, wenn sie nach einer Umsiedlung die lokale Bevölkerung konkurrenziert.
Nansen-Initiative ungerecht
Ein Schutzstatus für Klimaflüchtlinge, wie es die von der Schweiz stark vorangetriebene Nansen-Initiative fordert, würde nur Flüchtlingen eine Aufnahme gewähren, die aus eindeutig ökologischen Gründen ihr Land verlassen haben. «Das schliesst eine von vielen Schutzlücken, würde aber die berechtigte Frage aufwerfen, weshalb gerade Umweltvertriebene geschützt werden», schreiben die beiden Autorinnen.
Schutzinstrumente, die eine scharfe Unterteilung von legaler und illegaler Migration vornehmen, würden den Realitäten nicht gerecht werden, sagt Kaiser. Die Juristin argumentiert damit in eine ähnliche Richtung wie der Berner Rechtsphilosophen Martino Mona an, der die willkürliche Beschneidung der Zuwanderung scharf kritisiert und ein Recht auf Migration fordert. Allerdings geht Mona in seiner Forderung deutlich weiter, weil er sich grundsätzlich für freie Grenzen ausspricht.
Schutzbedürfnis ausschlaggebend
Für Kaiser würde ein modernes, pragmatisches Asylwesen jeden Ankommenden anhand seines Schutzbedarfs beurteilen. Wer kurzfristigen Schutz braucht, etwa weil Unruhen das Herkunftsland erschüttern oder weil er Opfer einer Naturkatastrophe geworden ist, soll für eine gewisse Zeit bleiben können. Wer auf Jahre hinaus nicht zurückkann, soll so lange bleiben können. Nicht der Fluchtgrund würde über den Verbleib entscheiden, sondern das Schutzbedürfnis.
Das Instrument dazu würde der Status der vorläufigen Aufnahme sein, wobei dieser so angepasst werden müsste, dass ab einer gewissen Dauer eine Aufenthaltsbewilligung ausgestellt werden sollte.
Kaiser und Co-Autorin Claudia Schwarzenbach verlangen, die Schweiz müsse sich gegen die scharfe Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Migration einsetzen. Sie solle zudem Migration als geeignete Anpassungsstrategie an Umweltveränderungen akzeptieren.
Schweiz hinkt hinterher
Die Auftritte von Aussenminister Didier Burkhalter auf grosser Bühne, mit denen für die Nansen-Initiative wirbt, entbehren nicht einer gewissen Ironie. Denn die Schweiz fordert zwar international einen Schutzstatus, anerkennt ihn aber – anders als einzelne skandinavische Länder und einige Staaten in Südamerika und Afrika – noch nicht mal selber.
Kaiser will nach den Wahlen das Gespräch mit den Parteien suchen, um die Resonanz auf ihre Forderungen einzuholen. Bislang traute sich keine Partei, die Grundsatzdebatte über unser Asylsystem aufzunehmen.