Selbstbestimmungs-Initiative: Europäische Richterin warnt vor gefährlichem Dominoeffekt

Nach einem Ja zur SVP-Selbstbestimmungsinitiative müsste die Schweiz aus der europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen. Angelika Nussberger, Vizepräsidentin des Menschenrechts-Gerichtshofes, befürchtet eine Signalwirkung: «Dann ist die Türe weit offen für alle, die rauswollen.»

Richterin mahnt: Ein Austritt der Schweiz würde Staaten wie die Türkei, Russland oder Aserbaidschan ermutigen, die Europäische Menschenrechtskonvention aufzukünden.

Die Kritik am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist keine Schweizer Erfindung. Seit Jahren murren Staaten, die für Verstösse gegen die Menschenrechtskonvention belangt werden, über die Richter in Strassburg. Besonders lautstark tut das wenig überraschend Russland – kein Land wird häufiger zu Korrekturen an seiner Rechtsprechung gezwungen.

Aktuell weigern sich die Russen, den Mitgliederbeitrag an den Europarat zu überweisen, was schon bald ein Ausschlussverfahren zur Folge haben dürfte. Trotzdem ist nicht Russland die Hauptsorge am Gerichtshof, sondern die Schweiz.

Das machte die Vizepräsidentin des Gerichtes, die deutsche Vertreterin Angelika Nussberger, an einem öffentlichen Vortrag an der Universität Basel deutlich: «Wenn sich die Schweiz zurückzieht, öffnet das die Tür für all jene Staaten, die rauswollen, aber sich bislang nicht trauten», sagte sie.

Angelika Nussberger.

Sollte die Schweizer Stimmbevölkerung am 25. November die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP annehmen, wäre ein Austritt unumgänglich, sobald der Gerichtshof korrigierend in die Schweizer Rechtssprechung eingreift. Das verlangt die Initiative, die das Völkerrecht der Schweizer Verfassung unterordnen will. Ein Austritt sei zwar nicht Ziel der Initiative, «doch sie nimmt eine Kündigung in Kauf», schreibt die SVP in ihrem Argumentarium.

Die Rechtspopulisten stören sich an mehreren Urteilen aus Strassburg, die nicht mit der Parteilinie konform sind. Die SVP kritisiert etwa Richtersprüche zu Aufenthaltsansprüchen von straffällig gewordenen Asylbewerbern, wobei das Gericht jeweils die Integrität der Familie schützte und damit Ausweisungen verhinderte.

«Die Schweizer haben eine europapolitische und weltpolitische Verantwortung.»

Angelika Nussberger

Vor allem aber ein Urteil des Bundesgerichts vom Oktober 2012 brachte die Blocherpartei dazu, die Selbstbestimmungsinitiative zu formulieren. Damals schwächte das Bundesgericht den in der Ausschaffungsinitiative geforderten Automatismus ab – mit Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), welche den Schutz der Grundrechte in Europa garantiert. Grund genug, den Beitritt zur EMRK von 1974 annulieren zu wollen.

Nussberger sagt, sie habe sich die Urteile gegen die Schweiz nochmals durchgeschaut und dabei festgestellt, «dass es einige gab, die nicht eindeutig waren». Für sie sind das aber «Fussnoten angesichts der Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention».

Nussberger nimmt eine Perspektive ein, die in der Debatte um die Initiative bislang kaum vorkommt. Die Auswirkungen eines Ja werden stets aus innenpolitischer Optik betrachtet. Dass die Schweiz zum Totengräber der Menschenrechtskonvention werden könnte, geht dabei unter. «Die Schweizer haben eine europapolitische und weltpolitische Verantwortung. Die Innenperspektive genügt nicht für ein Land mit derart internationaler Ausrichtung», mahnte Nussberger.

«Selbstbetrug»

Ein Austritt der Schweiz wäre eine Premiere. Seitdem die Europäische Menschenrechtskonvention 1953 in Kraft gesetzt wurde, trat kein einziger Staat aus. «Im Moment gilt noch, dass wer die gemeinsame Werteordnung verlässt, zum internationalen Paria wird», sagte Nussberger.  Sollte die Schweiz mit ihrer unbestrittenen Rechtsstaatlichkeit dem Gericht den Rücken kehren, könnten sich aber Staaten mit zweifelhafter Rechtssituation ermutigt fühlen, dasselbe zu tun, befürchtet die renommierte Juristin.

Dem Strassburger Gerichtshof sind sämtliche 47 Mitglieder des Europarats angeschlossen. Jedes Land stellt einen Richter und hat eine Stimme. Nebst den Staaten der Europäischen Union gehören etwa auch Russland, die Türkei, Georgien oder Aserbaidschan dem Gremium an – Länder, in denen der Gang nach Strassburg oftmals die einzige Chance auf einen fairen Richterspruch ist.

Wenig hält Nussberger vom von der SVP propagierten völkerrechtlichen Alleingang. «Warum sollte es ein einzelner Staat besser machen können als die 46 anderen?», fragt sie. Sie komme aus Deutschland, «wo man weiss, dass alles schlechter gelaufen ist, als wir alleine waren». In der Schweiz fehle dieses Bewusstsein womöglich.

Nussberger spricht von «Selbstbetrug»: «Es ist, wie wenn ich aus einem fahrenden Zug mit lauter fröhlichen Leuten rausspringe und sage, ich bin jetzt alleine fröhlicher.»

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