«Freiheit und Gerechtigkeit», die stärkste Partei im ägyptischen Parlament, ist der politische Arm der Muslimbruderschaft. Die Islamisten verkünden selbstsicher, wo sie die Probleme des Landes sehen.
Im Stadtteil Khalifa im Osten Kairos lädt «Freiheit und Gerechtigkeit» die Frauen der umliegenden Quartiere zu einem Kongress ein. Sie kommen, um den Mann zu treffen, den sie ins Parlament gewählt haben, Chaled Hanafi, den eleganten Augenarzt. Er erscheint in Begleitung seiner Gattin. «Wissen Sie, warum die Bewohner von Domiat (Stadt im Norden) den Islam angenommen haben? Weil sie die Schutzsteuer nicht bezahlen wollten!» Womit das Vorurteil vom bigotten, humorlosen Muslimbruder vom Tisch ist.
Dann ebnet die Ehefrau das Terrain. «Wir wollen der Welt zeigen, wozu die muslimische Frau, gemäss den Lehren des Propheten, fähig ist.» Paternalistisch-brüderlich erteilt Chaled Hanafi eine Minilektion in Staatsbürgerkunde, Parteiprogramm, islamischen Werten. «Es ist euer Recht, als Staatsbürgerinnen Forderungen zu stellen. Wir von ‹Freiheit und Gerechtigkeit› handeln nach den Regeln des Islam.»
Dann sprechen die Frauen. Ihre Geschichten stehen für eine 30-jährige Misswirtschaft. «Unsere Hütte fällt zusammen.» «Mein Sohn ist geistig behindert. Keine Schule nimmt ihn auf.» «Der Lehrer schlägt mich, weil ich bei ihm keine Privatstunden nehme.» Das Gefühl, ernst genommen zu werden, kennen diese Frauen nicht. «Die Regierung hat uns vergessen. Aber die Muslimbrüder sind da, wenn wir sie brauchen», sagt eine junge Mutter, der die Armut im Gesicht geschrieben steht.
Tief verankert
Die hocharabischen Koran- und Hadith-Zitate, die der smarte Parlamentarier des öfteren verwendet, um die Leistungen der Partei hervorzuheben, versteht die Analphabetin wahrscheinlich kaum, die Seitenhiebe auf die handlungsunfähige Übergangsregierung sehr wohl. Der Kongress von Khalifa vermittelt eindrücklich, wie tief die Bruderschaft dank ihrer Wohlfahrt in der Bevölkerung verankert ist und wie sehr sie mit Religion punktet.
Hier, wo man unter oder knapp über der Armutsgrenze lebt, liegt ihre Hauptwählerschaft. Ihre Gottesfürchtigkeit und die Disziplin, mit der die Museumsbrüder ihre Projekte durchziehen, und die Erfahrung von Verfolgung unter dem Mubarakregime haben sie zu Sympathieträgern gemacht.
Aufmerksam macht sich Hanafi Notizen, fragt nach. Die Frauen vertrauen ihm, das spürt man. Er hört zu, gibt Auskunft, verweist auf seine wöchentliche Sprechstunde, wo er nach den ermüdenden Sessionen noch einige Stunden verbringt. Geduldig wartet die Bittstellerschaft, bis sie zum Herrn Abgeordneten vorgelassen wird. Einigen kann geholfen werden, andere ziehen unverrichteter Dinge ab. Werden die Muslimbrüder Ägypten verändern? «Wir zwingen den Menschen nichts auf, auch den Hijab nicht.» Lächelnd wendet er sich wieder den Anliegen der Menschen zu.
Düstere Aussichten
In einer Privatwohnung im noblen Stadtteil Maadi im Süden Kairos sitzen Damen mit Louis Vuitton am Handgelenk und aufgespritzten Lippen, mittelalterliche Herren à la George Clooney, junge Leute in coolem Outfit. Niemand in dieser Runde hat «Freiheit und Gerechtigkeit» gewählt. Eingeladen ist Mohamad Abu Hamed, einer der Abgeordneten des liberalen «Ägyptischen Blocks». Seine Ausführungen über die Zukunft Ägyptens, mit sanfter Stimme vorgetragen, fallen düster aus.
«Das jetzige Parlament ist kein Spiegel der Gesellschaft. Wo sind die Frauen, die Kopten, die Jungen?» Die Muslimbrüder, denen er Stimmenkauf und Instrumentalisierung der Religion vorwirft, hätten nur mithilfe des Militärrats gewonnen. Ihr Ziel sei die Auslöschung der ägyptischen Identität zugunsten einer genuin islamischen, dagegen müsse man sich wehren.
Das Plädoyer für ein pluralistisches Ägypten, das die individuellen Freiheiten garantiert, kommt gut an bei der sichtlich eingeschüchterten Zuhörerschaft. Abu Hamed sucht Unterstützung für eine Basis, die das «echte» Ägypten repräsentiert. «Die Muslimbrüder sind fähig, innerhalb von Stunden ihre Anhänger zu mobilisieren. Dazu müssen die Liberalen auch fähig sein.»
Nasir Amin, Anwalt und Menschenrechtsaktivist, geht mit Abu Hamed einig, was die unheilige Allianz zwischen Militär und Bruderschaft betrifft. Es sei ein abgekartetes Spiel gewesen, von Anfang an. Die «Brüder» hätten die Gunst der Stunde genutzt, um an die Macht zu kommen, das Militär habe ihnen dazu verholfen im Gegenzug zu uneingeschränkter Immunität.
Die Muslimbrüder seien nicht in der Lage, grundlegende Veränderungen durchzubringen, die grassierende Armut zu bekämpfen oder die Wirtschaft anzukurbeln. Für die bürgerlichen Freiheiten hätten sie ohnehin keinen Finger gekrümmt, diesen Kampf hätten die politischen Aktivisten der liberalen und Arbeiterbewegung gefochten. Ihr einziges «nationales Projekt» sei die Verschleierung der Frau gewesen.
Linientreue Muslimschwester
Über Kairo wehen die Böen des Wüstenwinds, die Stadt versinkt unter einer gräulichen Schicht. Im Westen, in der Stadt des «6. Oktober», empfängt uns Aza Al Garf (47), eine der insgesamt 11 weiblichen Abgeordneten. Ironisch-besorgt erkundigt sie sich nach den Minaretten in der Schweiz.
Seit ihrem 14. Lebensjahr ist sie in der Muslimschwesternschaft aktiv. Was hat die siebenfache Mutter veranlasst, in die Politik zu gehen? «Ende der 90er-Jahre hat sich die Bruderschaft entschlossen, an den Wahlen teilzunehmen. Wir erhielten politische Schulungen.» Die Partei ermuntere Frauen, sich im öffentlichen Leben einzubringen, das widerspreche dem Islam keineswegs.
Die Neoparlamentarierin ist ein positives Aushängeschild einer Partei, die sich im Ausland und in Ägypten gegen das Stigma der Rückständigkeit wehren muss. Sie spricht sich für Reformen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich aus, die Situation der Frau sei in allen Bereichen verbesserungswürdig. Dennoch, im Verlauf des Gesprächs mit der selbstbewussten Muslimschwester klaffen die Unterschiede zwischen dem europäisch-westlichen Verständnis und demjenigen der Bruderschaftspartei recht weit auseinander.
Dogmatisch wie Freikirchler
«Männer und Frauen sind vor Gott gleich, aber sie haben unterschiedliche Funktionen.» Dem müsse man Rechnung tragen, in geschlechtsspezifischen Lehrplänen für Mädchen und Jungen beispielsweise. Mubarak habe die ägyptischen Frauen verwestlichen wollen. Die Antworten der wortgewandten Politikerin wirken dogmatisch und erinnern an die Positionen wertkonservativer, freikirchlicher Parteien aus den USA und Europa, halt in einer islamischen Variante.
Weibliche Genitalverstümmelung tut sie als Propaganda gegen Ägypten ab. «Die Beschneidung ist kein Problem. Manchmal ist sie nötig, manchmal nicht.» Gegen die in ländlichen Gebieten verbreiteten Frühehen, die offiziell vom Staat verboten sind, sei islamisch gesehen nichts einzuwenden.
Bei solchen Äusserungen stehen der ägyptischen Politologin Sherine El Ghatit die Haare zu Berge: «In der Auffassung der Moslembruderschaft ist die Frau Teil eines patriarchalisch-autoritären Systems, sie hat keine Entfaltungsmöglichkeiten.» Der Wüstenwind ist milder geworden, die Sicht klarer. Auf dem Rückweg nach Kairo erheben sich links und rechts von der Umfahrungsautobahn heruntergekommene Häuserblocks, an denen zerfetzte Plakate mit der unleserlichen Aufschrift «Freiheit und Gerechtigkeit für Ägypten!» kleben.
Gegen Ausbeutung und Dekadenz
1928 gründete Hassan al Banna in der ägyptischen Stadt Ismailia die Muslimbruderschaft zur Verbreitung islamischer Moralvorstellungen und der Unterstützung wohltätiger Aktionen, aber auch zum Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und westliche Dekadenz. Mitte der 1940er-Jahre kamen die Muslimschwestern dazu.
Die Bruderschaft ist straff organisiert, dank eigener Moscheen, Krankenhäuser und Schulen übt sie grossen Einfluss in Staat und Gesellschaft aus. Unter Hosni Mubarak stieg sie zur stärksten Opposition auf, immer wieder versuchte die Regierung sie durch Verhaftungen abzudrängen.
Nach der ägyptischen Revolution, an der sie nicht von Beginn an teilgenommen haben, gründeten sie die Partei «Freiheit und Gerechtigkeit». An den Parlamentswahlen im November 2011 erhielten sie 47 Prozent der Stimmen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.03.12