Die Krim ist kein Einzelfall: In ganz Europa streben Regionalisten verstärkt nach Unabhängigkeit vom Mutterland. Vordergründig geht es dabei um Autonomie in einem natürlichen Rahmen. Doch dahinter verbirgt sich oft wirtschaftlicher Egoismus.
Es war kein Scherz. Zwei Tage vor dem 1. April traf sich eine Delegation der Bewegung für ein unabhängiges Venedig in Chiasso mit ihrer schweizerischen Schwesterbewegung, der rechtskantonalen Lega dei Ticinesi. Ausgestattet mit eigener Fahne, Schärpen und einer historischen Karte posierten die Venetier gemeinsam mit Lega-Vertretern für die Presse.
Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten gibt es separatistische Strömungen in Europa. In jüngster Zeit haben sie aber beträchtlichen Auftrieb bekommen. Noch in diesem Jahr werden zwei Regionen über eine Loslösung vom Mutterstaat befinden. Am 18. September stimmen die Schotten offiziell über ein Verbleiben im britischen Staat ab. Und am 9. November wird – von der Madrider Zentrale im Voraus nicht anerkannt – in Katalonien über den Verbleib in Spanien abgestimmt.
Gegen die «künstliche» Nation
Dahinter warten andere Regionen, noch ohne Abstimmungstermin, aber mit Wahlen, in denen Parteien mit Spaltungsprogrammen auf Stimmenfang gehen: vor allem in Norditalien (die Lega, die ein unabhängiges Padanien will), neuerdings separat auch in Venezien (mit einem Internet-Plebiszit, an dem sich zwei Millionen Menschen beteiligt haben), aber auch im Südtirol und – seit Langem – in Flandern und immer wieder im Baskenland und in Korsika.
Der europäische Regionalismus ist kein erst gestern entstandenes Phänomen. Als engagierter Regionalist würde man sogar sagen, dass es die Regionen lange vor den Nationen gegeben habe (eigentlich schon am ersten Tag der Schöpfung) und dass sie erst im Laufe der Zeit von den jüngeren Nationen überlagert worden sind. Diese Überlagerung müsse nun rückgängig gemacht werden, so die Regionalisten. Der Gegensatz zwischen Regionen und Nationen ist allerdings diskutabel. Regionen nehmen für sich in Anspruch, die besseren, die echteren territorialen Einheiten zu sein als die «künstlichen» Nationen. Einige gebärden sich dabei, als wären sie kleine Nationen und reproduzieren somit eine Einheitsideologie, mit der die damals jungen Nationen im 19. Jahrhundert gross und stark geworden sind.
Unser Reichtum gehört uns
Die Regionalisten haben das Argument der kleineren Grösse, das heisst der grösseren Nähe zu gegebenen Basisproblemen, auf ihrer Seite. Das schöne Fremdwort dazu lautet Subsidiarität; ein Prinzip, zu dem sich die EU 1992 vertraglich verpflichtet hat. Das Hauptmotiv der meisten Regionalisten bilden aber mitnichten hehre Gesellschaftsvorstellungen. Viel mehr geht es darum, ihren Reichtum, die schönen Erträge ihrer wirtschaftlichen Prosperität (zum Beispiel das Erdöl der Nordsee) nicht an eine unersättliche Staatszentrale abführen und ärmeren und schnell als «faul» eingestuften anderen Regionen zur Verfügung stellen zu müssen.
Was eine Region ist, hängt oft vom betrachteten Kriterium ab: am wenigsten von der Topografie, vielmehr von Verkehrsnetzen und Zentrumsfunktionen und – wie immer – von Zugehörigkeitsgefühlen. Einzelne Orte könnten allerdings gleichzeitig verschiedenen Regionen angehören, und diese Art von Zugehörigkeit hat in der Regel keine «ewigen» Grenzen, sie kann sich entwickeln, wachsen oder zurückgehen.
Separatisten argumentieren mit vernachlässigten Interessen. Das entspricht einem Trend zu Ego-Haltungen.
Nationen sind nach unserem Verständnis dagegen festgeschriebene Gebilde. Regionen können von sehr unterschiedlichen Grössen sein. In der aktuellen Debatte wird darauf hingewiesen, dass die abspaltungswilligen Regionen sogar grösser sind als manche anerkannten Nationen. Nur das bekannteste Beispiel: Katalonien würde mit seinen 7,5 Millionen Menschen zu den 15 bevölkerungsstärksten und reichsten EU-Mitgliedern gehören.
Im Grunde ist die Nation Schweiz auch nur eine Region – natürlich mit Subregionen. Und diese Subregionen sind nicht identisch mit den Kantonen. Wie wir wissen, ist der interkantonale Finanzausgleich (NFA) ebenfalls Gegenstand ständiger Diskussionen. Und wie wir uns erinnern, hatte auch die Schweiz ihren Separatismus mit der nordjurassischen Bewegung gehabt. Diese empfand ihr Gebiet als von Bern fremdbestimmt und war der Meinung, mehr Steuern abführen zu müssen als Staatsunterstützung zurückzubekommen.
Solidarisch mit sich selber
Für die Befürworter einer Loslösung ist die Frage, was das für den zurückgelassenen Teil bedeutet, von höchstens zweitrangiger Bedeutung. Warum sich um den Teil Sorgen machen, der gross ist, bisher nur profitiert hat und sogar repressiv aufgetreten ist? Für Spanien würde die Loslösung von Katalonien aber nicht nur einen Gebietsverlust bedeuten, sondern die gesamte Staatsstruktur in Frage stellen. Pathetisch ausgedrückt: Es wäre nicht nur eine Beinamputation, sondern der Verlust eines Teils der Seele.
Separatisten neigen bisweilen dazu, nur noch mit sich selber solidarisch sein zu wollen. Selbstbewusste Regionalfürsten wie der ehemalige Padanien-Chef Umberto Bossi haben aus ihrer Position heraus verständlicherweise mehr die Abgrenzung als die Kooperation gesucht und ihr Gebilde homogener gedeutet als es in Wahrheit ist. Statt kleine Scheinhomogenitäten zu kultivieren, müsste man eigentlich jedem Staatsgebilde wünschen, dass es mit Binnenföderalismus und Autonomierechten geschützte Minderheiten in sich trägt. Was werden separatistische Minderheiten mit ihren eigenen antiseparatistischen Minderheiten tun? Die Krim bietet hierzu gerade Anschauungsunterricht.
Angeblich oder tatsächlich vernachlässigte Interessen werden von separatistischen Bewegungen ziemlich rücksichtslos ins Zentrum gestellt. Das entspricht einem gesamtgesellschaftlichen Trend zu Ego-Haltungen. Diese muss man nicht einmal mehr rechtfertigen, sie sind bereits zu einer Tugend avanciert. Alles andere gilt als dumm. Mausklick-Umfragen ohne diskursive Versammlungsdebatten begünstigen diesen Trend. Schliesslich kommt der Schneeballeffekt hinzu beziehungsweise die Meinung, dass man es selber doch auch versuchen sollte, wenn andere es ebenfalls tun.
Die EU ist wichtig und zugleich unwichtig
Die EU hat mit ihrem technokratischen Ansatz 1980 standardisierte Masseinheiten entwickelt: die NUTS (Nomenclature des unités territoriales statistiques) und die LAU (Local Administrative Units). Dabei ging es um die Schaffung von Planungs- und Subventionseinheiten. Mit der Zugehörigkeits- und Separationsfrage will man sich hingegen nicht die Finger verbrennen. Zudem gibt es, weil nicht vorgesehen, auch keine rechtliche Regelung von Trennungsszenarien. Dabei ist es nicht so, dass es bisher noch keine Abspaltung gegeben hätte. Das grosse Grönland hat sich, nachdem es 1979 autonom geworden war, 1982/85 per Volksentscheid aus der EU herausgenommen und ist jetzt nur noch mit einem assoziierten Status dabei.
Die Hauptfrage lautet, ob ein abgespaltener Teil einer Nation, zum Beispiel Schottland, Mitglied der EU bleibt. Einmal hiess es: Nein, die Mitgliedschaft müsste über eine neue Kandidatur erst wieder erworben werden. Ein andermal hiess es: Das sind Sondersituationen, die speziell behandelt werden müssten. Das leuchtet ein, denn abgespaltene Regionen von EU-Mitgliedern hätten ja bereits den ganzen Rechtsacquis, den Euro, die Unions-Bürgerschaft und so weiter. Es kann darum nicht sein, dass ein normales Aufnahmeverfahren angesetzt wird, das bekanntlich Einstimmigkeit der alten Mitglieder und damit auch die fragliche Zustimmung des verlassenen Staates (konkret etwa Spanien oder Grossbritannien) erfordern würde.
Ein eigenes Territorium für die EU?
In der EU besteht aber die Tendenz, den nationalen Status quo und die Zentralregierungen zu unterstützen. Sie ist an destabilisierenden Absatzbewegungen wenig interessiert und auch nicht an zusätzlichen Staatseinheiten, die das Aushandeln von Lösungen nur komplizieren. Würden neue Kleineinheiten entstehen, müssten die Stimmenverteilungen im Rat und im Parlament neu austariert werden, und dabei erhielten die Kleinen wie schon jetzt (Luxemburg) überproportionale Anrechnungen.
Im Falle Belgiens ginge es nicht um Abspaltung, sondern um Trennung – und dabei könnte es Europafreunde geben, die das gar nicht bedauern würden. Denn dann könnte Flandern einen eigenen Staat bilden, während das übrig gebliebene Wallonien zu einem EU-eigenen Territorium wird. Von einem solchen Territorium – allerdings auf das Saarland bezogen – war schon früher einmal die Rede. Dann hätte man wie in der USA mit Washington DC für die Hauptstadt ein eigenes Territorium, das nicht von einem Mitgliedstaat abhängig wäre.