Bei den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs in Sarajevo werden Vertreter der serbischen Regierung fehlen. Seit Monaten ringt Serbien um die Deutungshoheit über das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Wer hatte Schuld am Ersten Weltkrieg? In Serbien berühren solche Fragen wie in kaum einem anderen Land das Selbstverständnis der Nation.
Bei den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs im Rathaus von Sarajevo am 28. Juni werden Vertreter der serbischen Regierung fehlen. Premier Aleksandar Vucic und der serbische Präsident Tomislav Nikolic verwiesen in ihrer Absage auf eine Tafel am Rathaus, auf der geschrieben steht, dass «serbische Kriminelle» diese 1992 in Brand gesetzt hätten. Er könne nicht an einen Platz kommen, wo «seine Leute angeklagt» seien, so Nikolic.
Während sonst mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit der europäischen Einigung hervorgehoben wird, droht der 100. Jahrestag auf dem Balkan die Gegensätze zu vertiefen. Schon ein internationales Historiker-Treffen in Sarajevo hatte ohne nennenswerte serbische Beteiligung stattgefunden. Stattdessen organisierten serbische Historiker eine eigene Konferenz in Belgrad. «Wir Serben», erklärte dort der serbische Präsident Tomislav Nikolic zum Auftakt, «sind mit dem Versuch einer Verfälschung der Geschichte konfrontiert.» Lüge würde zur Wahrheit, und der serbische Kampf für Freiheit werde durch den Dreck gezogen.
Der Anlass für die schon seit Monaten anhaltende Aufregung ist das Buch «Die Schlafwandler» des britisch-australischen Historikers Christopher Clark, in dem Serbien eine grössere Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugeschrieben wird als bislang angenommen. Wochenlang war das Buch auch in Serbien in den Schlagzeilen. Und weil kaum jemand es gelesen hatte, glaubten viele, dass nun allein Serbien als vermeintlicher Drahtzieher des Attentats von Sarajevo an den Pranger gestellt werden sollte; selbst im Taxi konnte man in eine Debatte über die Lügen «westlicher Historiker» verwickelt werden.
Der «Grosse Krieg»
Denn wer nun Schuld ist am Ersten Weltkrieg, ob der serbisch-bosnische Attentäter Gavrilo Princip als Held oder Terrorist zu gelten hat, diese Fragen rühren in Serbien an das nationale Selbstverständnis wie in kaum einem anderen Land – und dazu gehört die Überzeugung, unschuldig in einen Krieg hineingezogen worden zu sein und dabei am meisten gelitten zu haben. Tatsächlich hatte Serbien gemessen an seiner Bevölkerungszahl mehr Opfer zu beklagen als jede andere beteiligte Nation. Fast jeder vierte Serbe überlebte den Ersten Weltkrieg nicht. Mit entsprechend grossen Worten wird normalerweise über den «Grossen Krieg», wie der Erste Weltkrieg in Serbien genannt wird, geredet.
Das serbische Volk habe «in biblischem Ausmass gelitten», sagt etwa der Historiker Dusan Batakovic. Die Zeit des Krieges sei für die Serben eine «epische Saga». Damit ist das Leiden der Bevölkerung unter der Besatzung gemeint, der Rückzug der Armee über die Berge Montenegros und Albaniens, das «serbische Golgota» – und schliesslich: die «Wiederauferstehung», mit dem entscheidenden Angriff 1918 an der Salonikifront. All das komme in der europäischen Geschichtsschreibung doch überhaupt nicht vor, beklagt Batakovic.
Wenige bleiben nüchtern
Von konservativen Historikern und Politikern, die normalerweise wenig über die von Serbien angezettelten Kriege in den Neunziger Jahren sprechen, wird das Erinnern an den Ersten Weltkrieg nun gar zur patriotischen Aufgabe für die Zukunft hochstilisiert. «Wir sind ein demoralisierte Nation», sagt etwa Batakovic. «Und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass sich Serbien über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs neu erfindet.»
Nur wenige bleiben bei so viel Rummel nüchtern, wie etwa der junge Historiker Danilo Sarenac. Der Erste Weltkrieg sei tatsächlich zentral für die serbische Identität, betont er. Aber wenn die Geschichte für politische Zwecke instrumentalisiert wird, sei das immer schlecht: «Das sollten wir bei diesem Jubiläum nicht zulassen.» Sarenac fordert eine seriöse Debatte über die Werte, die durch die Gedenkaktivitäten transportiert werden sollen. Aber die wird es wohl nicht geben, fürchtet er.
Tatsächlich weiss in Serbien nämlich immer noch niemand, wie und woran überhaupt offiziell erinnert werden soll. Es gibt zwar ein vom Kulturministerium eingesetztes Komitee, das mit der Vorbereitung und Auswahl von Veranstaltungen beauftragt wurde. Aber von einem Programm ist noch immer nichts bekannt. Sicher ist nur eins: Auch in Serbien selbst wird es am 28. Juni keine Veranstaltung zum Attentat von Sarajevo geben. Wieso auch, sagt Dejan Ristic vom Kulturministerium: «Mit dem Attentat hatten wir ja nichts zu tun.»