Entsteht nach dem überraschend deutlichen Erfolg über die Durchsetzungsinitiative eine neue politische Kraft in der Schweiz? Wir haben die Macher der Kampagne und Experten aus der Wissenschaft befragt.
Zwei Fragen dominieren die Tage danach: Die SVP wundert sich mit heftigem Brummschädel, woher denn plötzlich die Wand gekommen ist, gegen die sie gerasselt ist. Und auf der anderen Seite fragt man sich, ob sich beim nächsten Mal wieder so eine Wand hinzimmern lässt.
Haben wir am Sonntag einen Schlüsselmoment in der Schweizer Politik erlebt, eine Wasserscheide, wie es Peter Studer formuliert hat? Wir haben uns mit jenen Leuten unterhalten, die die Opposition gegen die Durchsetzungsinitiative (DSI) orchestriert haben, und bei Experten nachgefragt.
War alles nur ein einmaliger Hype?
Dass neue politische Kräfte auftauchen, Erfolg haben und wieder verschwinden, hat eine gewisse Tradition in der Schweiz. Bürgerinitiativen sind erstaunlich oft erfolgreich, sei es die Pädophilen-, die Verwahrungs-, die Moorschutz- oder auch die Abzockerinitiative. Die meisten Gruppierungen haben sich nach dem Erreichen ihres Ziels wieder zurückgezogen. Anti-Abzocker Thomas Minder sucht noch nach einer Anschlussverwendung.
Nun sieht etwa die «Operation Libero», jener Zusammenschluss liberal gesinnter junger Menschen, der gerade in aller Munde ist, keinen Grund aufzuhören. Der Erfolg über die DSI sei bloss ein Etappensieg. Libero-Co-Präsident Dominik Elser glaubt, die Kampagne sei gefestigt: «Wir können auf die Leute zurückgreifen, die wir bereits erreicht haben. Sie sind sensibilisiert, sie schenken unseren Aufrufen Glauben.»
«Wenn du gewinnst, bleiben die Leute dran.»
Beni Lehmann Kampagnenleiter der Gruppe «Schutzfaktor-M», die sich dem Schutz der Menschenrechte verschrieben hat, ist überzeugt, dass sich die Entwicklung nicht mehr stoppen lässt: «Am 9. Februar 2014, bei der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, ist die Zivilgesellschaft erwacht. Jetzt weiss sie, dass sie gewinnen kann. Wenn du gewinnst, bleiben die Leute dran. Hätten wir gegen die DSI verloren, wären viele wieder in Resignation verfallen.»
Politologe Mark Balsiger dagegen meldet Zweifel an: «Man kann den Abstimmungskampf nicht jedes Mal auf die Spitze treiben. Das Nein-Lager hat in den letzten Wochen die Durchsetzungsinitiative zur Übervorlage aufgeblasen.»
«So authentisch wurde die Ankündigung einer Schicksalsabstimmung noch nie vorgetragen.»
Haben die Gegner die Abstimmung derart überhöht, dass sich die Rhetorik nie wieder erfolgreich bemühen lässt? Der Soziologe Gaetano Romano, der über soziale Bewegungen geforscht hat, glaubt das nicht: «Wenn Parteien von einer Schicksalsabstimmung sprechen, ist das Jargon. Das nimmt man schon lange nicht mehr ernst. Aber bei der vielfältigen Gegnerschaft der DSI war das anders. So authentisch wurde die Ankündigung einer Schicksalsabstimmung noch nie vorgetragen. Das nützt sich nicht so schnell ab.»
Ist eine neue politische Bewegung entstanden?
Soziologe Gaetano verneint: «Die Gegner der DSI greifen auf die Grundlagen der liberalen Moderne zurück. Sie sind nicht im Rechts-Links-Schema einzuordnen, sie formulieren keine neuen Forderungen. Seit den 1980er-Jahren spricht man vom Ende der Geschichte, als sich nationalistische und kommunistische Gegenprojekte zur liberalen Moderne erledigt hatten. Auch das nationalkonservative Gegenprojekt ist auf dem Rückzug, das hat sich jetzt empirisch gezeigt. Es gibt eine Mehrheit in der Mitte der Gesellschaft, die ideologischen Konzepten kritisch gegenüber steht und die Errungenschaften der modernen Gesellschaft ernst nimmt. Daraus ist dieser Widerstand entsprungen.»
Auch die Einschätzung von Beni Lehmann (Schutzfaktor-M) widerspricht eher der These einer neuen Bewegung: «Der Widerstand gegen die DSI war sehr heterogen, sehr volatil. Wer zusammen gegen die DSI gekämpft hat, kann bei einer nächsten Abstimmung zum Gegner werden.»
Was steckt hinter dem Erfolg der DSI-Gegner?
Andrea Arezina gilt als eine der besten Macherinnen politischer Kampagnen in der Schweiz. Sie war eine der zentralen Figuren bei der 1:12-Initiative der Juso und stand jetzt hinter der Kampagne des «Dringenden Aufrufs», einem der Erfolgsbausteine der Anti-DSI-Bewegung. Sie gibt Einblick in die Strategie im Kampf gegen die DSI:
«Zunächst war da diese grosse Sehnsucht bei den Menschen, dass jetzt endlich fertig ist mit dieser Politik der SVP. Wir haben den Leuten Möglichkeiten gegeben, diese Sehnsucht zu artikulieren. Sie konnten sich mit einem der 220 Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen, vom Alt-Bundesrat über den Sportler bis zum Pöstler, die unseren Aufruf als Erste unterzeichnet haben, identifizieren.»
«Wir haben Gelegenheiten geschaffen, sich zu engagieren.»
Interessierte konnten bei Vorbildern andocken und wurden dann über möglichst niederschwellige Angebote in die Kampagne gezogen: «Wir haben Gelegenheiten geschaffen, sich zu engagieren. Man konnte unkompliziert Geld spenden, konnte aber auch einfach einen Button bestellen, man konnte den Aufruf unterschreiben oder Flyer ausdrucken und in der Nachbarschaft verteilen. Wir haben auch Anfragen von Schülern erhalten, die das Thema in ihre Klassen tragen wollten.»
Die Gruppe nutzte die sozialen Medien intensiv, etwa mit einem eigenen Film der «Heimatland»-Macher, der zur Schlussmobilisierung diente, indem er die Argumente nochmals verfestigen sollte. Der Streifen wurde 200’000 mal auf Facebook geteilt. Arezina sagt aber auch: «Nur die Verbindung einer Online- und Offlinekampagne bringt den Erfolg.» Dem Austausch im Netz fehle die Verbindlichkeit, die erst ein persönliches Gespräch herstellen könne.
«Erst auf Social Media wurden kritische Artikel zur DSI anschlussfähig.»
Wesentlich zum Erfolg beigetragen habe, vermutet Medienwissenschaftler Vinzenz Wyss, dass die Bewegung die unterstellten Schwächen der klassischen Medien verstanden und kompensiert habe: «Die allermeisten Medien haben sich klar gegen die DSI positioniert. Aber ihre Glaubwürdigkeit ist gerade bei manchen Skeptikern begrenzt. Sie werden als Vertreter des Systems wahrgenommen, Stichwort «Lügenpresse». Dadurch, dass viele Leute einzelne Artikel über die DSI auf Facebook gestreut haben, flossen sie in die Social-Media-Sphäre ein und wurden dort als anschlussfähig wahrgenommen.»
Wie muss sich die Bewegung weiterentwickeln?
Kampagnenprofi Andrea Arezina hält es für zentral, den Widerstand in eine positive Botschaft zu verwandeln: «Bislang sind wir am reagieren. Was wir getan haben, diente dazu, etwas zu verhindern. Aber wir benötigen ein grösseres Projekt, das uns zusammenhält. Eine alternative Geschichte der Schweiz zur SVP, unsere eigene Idee, was dieses Land ausmacht.»
Ähnlich beurteilt das Beni Lehmann von Schutzfaktor-M: «Zum Schluss war die Kampagne hektisch, sie war von Empörung getragen, vom erbitterten Widerstand gegen die SVP. Davon müssen wir wegkommen. Wir brauchen einen optimistischen Grundton.»