Mit dem Bau des israelischen Grenzzaunes und der ägyptischen Militäroperation ist die Lage der Opfer von Menschenhändlern auf dem Sinai noch verzweifelter geworden. Etwa 30’000 Afrikaner sind in den letzten vier Jahren durch diese Hölle von Entführung, Erpressung und Folter gegangen, Tausende sind umgekommen.
Ein Vater und seine zwei Töchter werden in einem sudanesischen Flüchtlingslager entführt und mit Waffengewalt per Auto auf die ägyptische Sinai-Halbinsel verschleppt. Dort landet die eritreische Familie in einem Foltercamp. Sie werden gequält und die Mädchen vergewaltigt, bis die Familie das Lösegeld beschafft hat. Der Vater wird bewusstlos vom Militär in Israel aufgegriffen, wo ihn harsche Strafen erwarten. Die Mädchen werden von den Menschenhändlern in der Wüste freigelassen, verhaftet und in einer ägyptischen Haftanstalt untergebracht. Sie brauchen wieder Geld, um deportiert zu werden.
Das ist in trockenen Worten ein Beispiel des Sinai-Menschenhandelszyklus, wie er in einer neuen Studie unter dem Titel «The Human Trafficking Cycle: Sinai and Beyond» dargestellt wird, die von der belgischen Tilburg Universität verfasst und letzte Woche an einem Hearing im Europäischen Parlament präsentiert wurde.
Die Forscher haben 115 Interviews an verschiedenen Stationen dieses Zyklus geführt und bezeichnen diese Erlebnisberichte als «berührend und schockierend». Das Verständnis dieses Zyklus solle helfen, diesen Menschenhandel zu stoppen, formulieren die Autoren ihr Ziel.
30’000 Opfer in vier Jahren
Seit Anfang 2009 wurden zwischen 25’000 und 30’000 Flüchtlinge vom Horn von Afrika entführt und in der Sinai-Wüste manchmal über ein Jahr festgehalten, um Lösegelder von bis zu 40’000 Dollar pro Person zu erpressen. Die Opfer sind im Durchschnitt 22 Jahre alt, etwas mehr Männer als Frauen. Auch Kinder und Schwangere sind darunter.
Folter und sexuelle Gewalt werden systematisch als Druckmittel eingesetzt. Die Gefangenen werden wie Waren gehandelt und oft mehrmals gekauft und verkauft.
Das Vokabular von «Lagerhäusern», «Auktionen» und «Preisverhandlungen» mahnt an Sklavenhandel; der Wert von Menschen wird nach ihrem Marktpreis festgelegt. Über 90 Prozent der Betroffenen stammen aus der Militärdiktatur Eritrea. Der Grossteil will gar nicht nach Israel, sondern wird aus Flüchtlingslagern im Sudan entführt. Jene mit Verwandten in Europa müssen die höchsten Lösegelder entrichten.
Mobiltelefone und internationale Geldüberweisungsfirmen machen dieses erpresserische Geschäft erst möglich, das mit dem Abkommen zwischen Rom und Tripolis im Jahr 2009 über die Rückschaffung von Flüchtlingen nach Libyen seinen Anfang nahm.
Korrupte Beamte Teil des Netzwerkes
Das Netz der Menschenhändler besteht im Sudan und auf dem Sinai aus lokalen Stammesangehörigen und kriminellen Gangs, unterstützt von korrupten Beamten. Der preisgekrönte ägyptische Journalist Abu Draa geht davon aus, dass die Sicherheitsbehörden auf dem Sinai die Namen und Verstecke der Schmuggler kennen.
Das Lösegeld, das in dieser Schmuggelindustrie in den letzten fünf Jahren erpresst wurde, beziffern die Autoren nach konservativen Schätzungen auf mindestens 600 Millionen Dollar. 25 bis 50 Prozent der Opfer überleben diese Hölle nicht. Zwischen 5000 und 10’000 Gefangene dürften umgekommen sein.
Mit der Errichtung eines Zauns durch Israel an der Grenze zu Ägypten und der grossen Militäroperation auf dem Sinai gegen islamistische Extremisten nach dem Sturz von Präsident Mohammed Morsi Mitte des Jahres ist die Lage für die Opfer dieser Menschenhändler noch aussichtsloser geworden. Die Zahl der Toten ist sogar noch angestiegen. Es wurden bereits Massengräber auf dem Sinai entdeckt. Der Sinai ist zu einer Sackgasse geworden.
Mit der Bezahlung des Lösegeldes ist der Albtraum nicht zu Ende. Auch nach der Entlassung sind die Opfer nicht in Sicherheit. Extrem geschwächt sterben viele in der Wüste. Im besten Fall gelingt eine Flucht nach Kairo, die wiederum mindestens 1000 Dollar kostet. Flüchtlinge, die von den ägyptischen Sicherheitskräften aufgegriffen werden, kommen in Haftanstalten.
Opfer müssen selbst für Ausschaffung aufkommen
Asyl erhalten Eritreer in Ägypten nicht. Für ein Flugticket zu ihrer Ausschaffung müssen sie selbst aufkommen. Ägypten hat zwar alle internationalen Abkommen gegen Menschenhandel unterzeichnet, tut aber wenig für die Umsetzung. Die Opfer werden kriminalisiert, gegen die Schlepper wird kaum etwas unternommen.
Seit Israel einen Zaun an der ägyptischen Grenze errichtet hat, sind die illegalen Übertritte von 1000 bis 1500 Flüchtlingen im Juli 2012 auf gerade noch einen im Juli 2013 gesunken. Die Grenzwächter beider Seiten arbeiten zusammen.
Es wird auch scharf geschossen. Israel ist zudem dabei, sein Anti-Infiltrationsgesetz massiv zu verschärfen. Sinai-Überlebende geniessen auch hier keinen besonderen Schutz. Seit der Zaun steht, versuchen entlassene Opfer auch vermehrt über Libyen nach Europa zu gelangen. Einige waren unter den Toten der Lampedusa-Tragödie am 3. Oktober.