So können auch Deutsche von der Mehrwertsteuer-Rückgabe profitieren

Wir habens ausprobiert: Dank länderübergreifender Zusammenarbeit mit Schweizer Einkaufstouristen können sich auch Deutsche die Mehrwertsteuer zurückerstatten lassen. Der Zoll ist machtlos.

Der «grüne Zettel» ist ein Privileg, das auch gerissene deutsche Kunden für sich in Anspruch nehmen können. (Bild: Janick Zebrowski)

Wir habens ausprobiert: Dank länderübergreifender Zusammenarbeit mit Schweizer Einkaufstouristen können sich auch Deutsche die Mehrwertsteuer zurückerstatten lassen. Der Zoll ist machtlos.

Die Geschichten kursieren seit geraumer Zeit in Lörrach, Weil am Rhein und Rheinfelden. Nicht bei allen lässt sich der Wahrheitsgehalt prüfen. Geschichten, die davon handeln, dass man doch einiges an Geld sparen kann beim Einkaufen, wenn man nur die richtigen Freunde hat. 19 Prozent vom Nettopreis bei Windeln, Computern und Fernsehern, sieben Prozent bei Lebensmitteln. Es sei ganz einfach, man müsse es nur so machen wie die Nachbarn aus der Schweiz und sich die Mehrwertsteuer zurückholen. Das Umsatzsteuergesetz besagt, dass die Steuer erstattet wird, wenn die Ware ausgeführt wird.

Den Gerüchten folgen Angebote von Freunden, die in Basel wohnen. Die Angebote beginnen zum Beispiel mit dem Hinweis: «Neulich habe ich für X. eine Lederjacke mit rübergenommen» oder «Also wenn du mal was Grösseres anschaffen willst …». Man kann solche Angebote ausschlagen und vergessen. Aber spätestens beim nächsten Einkauf, wenn man in der Schlange vor der Kasse steht und mit ansieht, wie sich andere Kunden eine Ausfuhrbescheinigung ausfüllen lassen, meldet sich das innere Sparschwein. «Ich bin doch nicht blöd», zitiert es den alten Werbespruch.

«Das macht doch jeder»

Einmal aufmerksam geworden, lernt man Freunde und Bekannte plötzlich von einer neuen Seite kennen, und wer am Stammtisch das Thema anspricht, hat den Eindruck, er sei der letzte, der den Trick noch nicht anwendet. Der nicht die Situation nutzt, die sich aus der speziellen Lage an der Schweizer Grenze ergibt. Endlich einmal nicht nur die Zeche zahlen in Gestalt hoher Preise im Restaurant und teurer Mieten im Einzugsgebiet der gut verdienenden Pharma-Pendler. Und endlich nicht nur zusehen, wie Franken-Verdiener erst die Drogerie- und Supermarktkassen blockieren und dann auch noch billig einkaufen.

Themenschwerpunkt: Einkaufstourismus
Grosseinkäufe im Familienwagen, Getränkevorrat für die Studentenparty, ein Korb voll Gemüse vom Bauernmarkt: Hier geht’s zum Dossier.

Also machen wir die Probe aufs Exempel, nicht mit einem Joghurt oder einem Paket Windeln, es soll etwas richtig Greifbares sein, eine Espressomaschine. Wir wollen wissen: Wie leicht ist es wirklich, die Mehrwertsteuer selbst einzusacken. Immerhin haben in den ersten drei Monaten allein an den Grenzübergängen in Weil am Rhein, Lörrach, Grenzach-Wyhlen und Rheinfelden 1,5 Millionen Kunden einen Warenausfuhrschein abstempeln lassen. Wer sich diese Zahlen vor Augen führt, weiss: Echte Kontrollen kann es gar nicht geben. Wir geben den Beamten aber eine Chance und kaufen nicht am Samstag ein, dem Grosskampftag.

Seit Jahren beklagt der Bund Deutscher Zollbeamter (BDZ), dass an der deutsch-schweizerischen Grenze hoch qualifizierte Beamte mit nichts anderem beschäftigt sind als dem Abstempeln grüner Ausfuhrscheine. Vor neun Jahren wurden 150 Beamte eigens für diese Aufgabe eingestellt, damals wurden noch sechs Millionen Ausfuhrscheine ausgestellt. Im Jahr 2014 wurden zwischen Konstanz und Weil am Rhein 15,7 Millionen grüne Zettel abgestempelt, 1,5 Millionen mehr als 2012. Seit der Freigabe des Frankenkurses Mitte Januar sind die Zahlen noch einmal um 20 Prozent gestiegen. 20’000 Scheine werden an manchen Tagen an einer einzigen Kontrollstelle gestempelt. Alle 14 Sekunden wird entlang der Rheinschiene eine Ausfuhr bestätigt. Für echte Kontrollen bleibt da keine Zeit.

Die gesetzliche Kontrollquote an der Grenze wird längst nicht mehr erfüllt.

Dabei gibt es eine Vereinbarung zwischen der Finanzverwaltung des Landes und dem Bundesfinanzministerium, das eine Kontrollquote von 30 Prozent vorsieht. Der Zoll (Bund) wird schliesslich nicht in eigener Sache tätig, sondern im Dienste der Finanzämter (Länder). Würden die Zollbeamten dieser Vorgabe ernsthaft nachkommen und jede dritte Ausfuhr prüfen, die Grenzen wären dicht, der Verkehr bräche zusammen.

Im Geschäft passiert ein erster Fauxpas. Die Verkäuferin sagt: «Die Maschine hat einen EU-Stecker.» Wir schauen uns ratlos an. Natürlich. Was sonst. Da wir nicht die Absicht haben, das Gerät in die Schweiz auszuführen, hat uns die Steckerfrage nicht interessiert. «Sie brauchen einen Adapter», insistiert die Frau. Ach so, «ja, klar, haben wir». Dann erzählt sie etwas von der Drei-Jahres-Garantie und dass die Rechnung als Beleg gilt und dass sie die Adresse benötige.

Zweiter Fehler, wir geben eine deutsche Adresse an. Erstaunt sagt sie, in diesem Fall könne sie uns leider keinen Ausfuhrschein ausstellen. Wir korrigieren die Angabe, sie tippt die Adresse meines Begleiters ein. Wir sind uns sicher, dass sie dabei ahnungsvoll ein Lächeln unterdrückt. Vermutlich denkt sie sich ihren Teil. Aber ist das ihr Thema? Soll sie auf den Verkauf einer Kaffeemaschine im Wert von 379 Euro verzichten, bloss weil sie eine Ahnung hat? Nein. Wir gehen also zur Kasse, bezahlen, lassen den Ausfuhrschein stempeln und machen uns auf den Weg zur Grenze.

Wir ahnen, dass niemand etwas von uns wissen will. Zumal der Bundesfinanzminister in eine ganz andere Richtung denkt. Die Ausfuhrbescheinigungen sollen künftig automatisch erfolgen. Es wäre nur konsequent. Seit Jahren verfolgt Wolfgang Schäuble die Linie, alles zu unterlassen, was die Kauflaune der Schweizer Nachbarn beeinträchtigen könnte. Deshalb sind den Zollbeamten auch die Hände gebunden, was Sanktionen angeht. Es gibt erstens keinen Straftatbestand der Nicht-Ausfuhr einer solchen Ware und zweitens keinen dazu gehörenden Bussgeldkatalog.

Wer erwischt wird, muss keine Folgen fürchten.

Wird jemand beim Schmuggeln erwischt, wird der Ausfuhrschein ungültig gestempelt. Das wars. «Das ist total frustrierend», sagt ein Beamter. Man komme sich – salopp gesagt – «verarscht» vor. Zumal, wie ein Beamter erzählt, es sich teilweise um Centbeträge handle. «Es gibt Leute, die kaufen für weniger als zehn Euro Lebensmittel ein und lassen sich dann die wenigen Cent erstatten», sagt einer. «Das ist nicht mehr rational, da geht es ums Prinzip. Das ist ein Wettbewerb.» 

Die Zollgewerkschaft fordert daher die Einführung einer Bagatellgrenze, wie sie in Frankreich (175 Euro), Italien (150 Euro) und Österreich (75 Euro) gilt. Erst bei Beträgen, die darüber liegen, wird die Mehrwertsteuer erstattet. Die Gewerkschaft hat 100 Euro als Mindestwert vorgeschlagen. Der baden-württembergische Finanzminister Nils Schmid (SPD) hat nun dem Bundesfinanzminister einen Brief geschrieben, in dem er sich der Forderung anschliesst.

«Um die Flut an zu erteilenden Ausfuhrbescheinigungen für Kleinbeträge einzudämmen, mögliche negative Folgen für die Wirtschaft in der Region aber dennoch in Grenzen zu halten, erachten wir die Einführung einer Bagatellgrenze in Höhe von 50 Euro für sinnvoll und sachgerecht», heisst es im Brief. Schmid erinnert daran, dass durch die Überlastung des Zolls «der missbräuchlichen Inanspruchnahme der Umsatzsteuerbefreiung zwangsläufig Vorschub geleistet» werde. Die Geschichten, die in Lörrach kursieren, kennt man also auch in Stuttgart.

Bagatellgrenze ohne Chance

Die Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee (IHK) hat erhoben, dass der durchschnittliche Einkauf bei 25 bis 30 Euro liege, 80 Prozent unter 100 Euro. Für 80 Prozent der Kunden fiele also das Steuerprivileg weg – und am Ende, warnt die IHK, auch die Kunden selbst. Die beiden örtlichen CDU-Bundestagsabgeordneten Armin Schuster (Lörrach) und Thomas Dörflinger (Waldshut) haben unlängst erneut betont, sie lehnten eine solche Bagatellgrenze ab. Ebenso der örtliche Handel, der Umsatzeinbussen fürchtet und Arbeitsplätze in Gefahr sieht.

Gemeint sind nicht die Stellen, die in Folge der Ladenschliessungen in den grenznahen Schweizer Gemeinden verloren gehen. Immerhin, das ergab eine Studie der Credit Suisse, wandern fünf Milliarden Franken Kaufkraft vom Schweizer Einzelhandel ins Ausland ab. Was auch bedeutet, dass der deutsche Fiskus pro Jahr auf einen zweistelligen Millionenbetrag an Mehrwertsteuereinnahmen verzichtet.

Es ist ein normaler Wochentag, aber es hat sich eine Schlange gebildet. Autos mit Kennzeichen aus den grenznahen Kantonen. In einem Auto vor uns liegt ein Kühlschrank auf der umgeklappten Rückbank. Kaum stehen wir, folgt hinter uns das nächste. Mein Begleiter nimmt den Ausfuhrschein und seinen Ausweis, geht ruhigen, geschäftigen Schrittes zum Zollschalter. Zwei Schalter sind geöffnet, vor beiden stehen Menschen, es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Mein Begleiter stellt sich an, legt den Schein auf den Tresen, der Stempel klopft aufs Papier, er dreht sich um und kommt zurück zum Auto. Wir geben uns die Hand, er geht zur Strassenbahn. Die Maschine hat Deutschland nie verlassen, sie läuft und macht guten Kaffee. Die 60.51 Euro Mehrwertsteuer hole ich – gegen Vorlage der Ausfuhrbescheinigung – im Elektrogeschäft ab, wir haben dem Staat die Steuer vorenthalten.

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