So viel zur Möglichkeit, Gräben zuzuschütten

Seit dem Wahlkrimi von Ende Mai hat auch Österreich einen «Graben». Der hat zwar wenig mit geraffelten Kartoffeln zu tun, Schlüsse daraus ziehen kann die Schweiz trotzdem.

Die Anhänger der FPÖ und dem knapp gescheiterten Kandidat Norbert Hofer fühlen sich betrogen.

(Bild: Keystone/Dominik Butzmann)

Seit dem Wahlkrimi von Ende Mai hat auch Österreich einen «Graben». Der hat zwar wenig mit geraffelten Kartoffeln zu tun, Schlüsse daraus ziehen kann die Schweiz trotzdem.

In diesem Fall kommen wir kaum um die etwas abgegriffene Metapher des halb vollen und halb leeren Glases herum: Die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten hat mit einer Differenz von 0,5 Prozent zu einem Fifty-fifty-Resultat geführt.

Es fragt sich, woraus die beiden 50 Prozent bestehen, wie jetzt mit dieser Zweiteilung umgegangen wird – und schliesslich, was aus schweizerischer Perspektive daraus geschlossen werden kann.

Wie lassen sich die beiden Hälften umschreiben und was unterscheidet sie? Bei der Wahl ging es um die Besetzung eines Amts, das nicht mit Entscheidungsmacht ausgestattet ist, aber einen symbolischen Status hat. Insofern wurde ein Bekenntniskampf zwischen Grundpositionen ausgetragen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Ein Kommentator brachte es auf den Punkt: Weil es um fast nichts ging, ging es um ziemlich alles.

Freundlich und grob…

Die beiden Lager können auch weiterhin unterschiedlicher nicht sein. Sie definieren sich über ihre Leitfigur und ihre Anhängerschaft. Dabei stellt sich die Frage, wie weit die Haltung der Führer von ihrer Gefolgschaft bestimmt ist – oder wie weit die Führer die Haltung ihrer Supporter beeinflussen können.

Die FPÖ gibt sich sozial, ohne jedoch zu erklären, wie sie die vollmundigen Versprechen finanzieren will.

Die Freiheitliche Partei FPÖ pflegt mit ihrem Austro-Nationalismus ein ziemlich unfreiheitliches und enges Österreichverständnis, sie lebt in hohem Mass von Feindseligkeiten, ist im Namen des «Volks» selbstverständlich gegen die EU, gegen die Eliten, gegen den Islam, gegen Flüchtlinge, gegen Freihandel, gegen liberale Lebensformen. Sie gibt sich sozial, ohne jedoch zu erklären, wie sie die vollmundigen Versprechen ausser mit drastischer Verschuldung finanzieren will.

Sie kommt doppelgesichtig daher: einerseits mit der äusseren Freundlichkeit des jungen Präsidentschaftsanwärters Norbert Hofer und andererseits mit dem Parteichef Heinz-Christian Strache, der den groben Part übernimmt und zugleich die nächste Kanzlerschaft anstrebt.

… gegen offen und modern

Auf der anderen Seite steht der unaufgeregte, bereits 72-jährigen Wirtschaftsprofessor Alexander Van der Bellen – ein erfahrener Parlamentarier, langjähriger Fraktionspräsident der Grünen (stets mit Eigenpositionen und jetzt mit stillgelegter Parteimitgliedschaft), Universitätsbeauftragter der Stadt Wien, Autor eines Buches mit dem programmatischen Titel «Die Kunst der Freiheit in Zeiten zunehmender Unfreiheit» und ein guter Zuhörer. Jemand, der in Flüchtlingen nicht nur Belastung, sondern auch Chancen sehen will. Ein entschiedener Europäer mit einem Grundverständnis, das als moderne Weiterführung der österreichischen Tradition der «Vielvölkerkultur» verstanden werden kann.

Man kann gewiss auch ohne die Biografie eines Van der Bellens ein liberaler Europäer sein.

Zu Van der Bellens Profil gehört auch dessen aussergewöhnliche Familiengeschichte: Der jetzt als oberster Österreicher amtierende Präsident ist erst mit 14 Jahren eingebürgert worden, aber immerhin in Wien zur Welt gekommen. Sein Grossvater väterlicherseits – selbst Spross einer 300 Jahre zuvor aus Holland nach Russland ausgewanderten Familie – war Gouverneur im russischen Pskow und setzte sich nach der bolschewistischen Revolution nach Estland ab. Van der Bellens Vater floh mit seiner Familie 1940 nach dem Einmarsch der Sowjets nach Deutschland. 1945 die nächste Flucht: vor der Roten Armee, die Wien besetzte, nach Tirol in den amerikanischen Sektor.

Man kann gewiss auch ohne eine solche Biografie ein liberaler Europäer sein. Andererseits ist es naheliegend, dass jemand mit einer solchen Lebensgeschichte ein liberaler Europäer ist.

Der «Graben» hatte auch sein Gutes

Polarisierung wird in der Regel als schlecht bewertet, weil sie zu einer realitätsfremden Vergröberung führt. In diesem Fall war es aber zu begrüssen, dass ein Gegensatzpaar vorlag, das zwar fast zufällig so in diese Schlussrunde kam, aber deutlicher doch nicht hätte angeboten werden können. Die Alternative dürfte den Anhängern der gegensätzlichen Lager den Entscheid für die eine oder andere Seite diesmal leicht gemacht haben.

Analysten haben nun festgestellt, dass ein «Graben» quer durch Gemeinden, Milieus und Familien aufgegangen sei. In der Makro-Betrachtung offenbarte sich ein wenig überraschender Stadt-Land- und West-Ost-Gegensatz.

Man könnte sich wundern, wie ein solches Resultat nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit noch möglich ist.

Zu dieser Bi-Polarität ist es gekommen, weil die beiden grossen Traditionsparteien, die «rote» SPÖ und die «schwarze» ÖVP, als Verwalter des Bisherigen und ihrer Pfründen einen grossen Teil des früheren Vertrauens eingebüsst haben. In der Schlussrunde haben sie sich wenigstens informell für den «grünen» und nicht den «blauen» Kandidaten entschieden. Diese Unterstützung war anerkennenswert, aber auch inhaltlich gerechtfertigt und hat schliesslich zum hauchdünnen Sieg der für Österreich um vieles besseren Lösung beigetragen.

Es bleibt freilich die bange Frage, warum beinahe die Mehrheit der Abstimmenden keine Hemmungen hatte, einem Kandidaten die Stimme zu geben, der mit seinen Auftritten auch «braune» Geister nährt. Man könnte sich wundern, wie dies nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit noch möglich ist. Eine Antwort dürfte lauten, dass diese Vergangenheit teilweise eben überhaupt noch nicht vergangen ist und von ihr leider keine abschreckende Wirkung auf diese Kräfte ausgeht.

Betrugsvorwurf und Gleichheitssuche

Jetzt lauten die Tagesparolen, dass der Graben zugeschüttet werden müsse. Der knapp gewählte Bundespräsident hat denn auch erklärt, dass er, wie dies sein Amt erfordert, ein Präsident aller Österreicher sein und das Vertrauen der Gegenseite gewinnen wolle. Auf das Fifty-fifty-Ergebnis bezogen, erklärte er, dieser Gleichstand zeige: «Wir sind eben gleich.»

Arithmetisch sind sie das, inhaltlich sind sie es aber überhaupt nicht. FPÖ-Parteichef Strache stellte bezeichnenderweise die Forderung auf, dass nicht seine harte Seite jetzt den Graben zuschütten müsse, sondern die flexiblere, weiche Gegenseite. Diese könnte der Versuchung ausgesetzt sein, nach der bekannten Standardparole, dass man die «Ängste» der Menschen doch ernst nehmen müsse, Konzessionen in der falschen Richtung zu machen. Verängstigt sein wollenden Bürgern und Bürgerinnen müsste jedoch erklärt werden, dass sie weniger Angst vor Europa, dem Islam, den Flüchtlingen etc. haben sollten als vor dem Rechtsextremismus.

Auf der Verliererseite werden Verschwörungstheorien herumgereicht, die sich vor allem gegen angeblich manipulierte Korrespondenzstimmen richten. In ihrer typischen Ambivalenz will die FPÖ das Resultat aber nicht anfechten und damit vermeiden, dass die Überprüfung das Wahlergebnis bestätigt. Sie zieht es vor, den Verdacht am Leben zu halten.

Hätte die SVP gratuliert, wenn der FPÖ-Kandidat gesiegt hätte?

Die FPÖ war die Verliererin und ist dennoch Siegerin des letzten Wochenendes. Als derzeit wählerstärkste Partei strebt sie in den nächsten Nationalratswahlen, die spätestens 2018 fällig oder schon vorher unvermeidlich sind, die Kanzlerschaft an. Nach bestehenden Regeln müsste sie mit der Regierungsbildung betraut werden, weil es dazu keine Mehrheit braucht und es genügt, die meisten Stimmen bekommen zu haben.

Der neue Bundespräsident hat allerdings schon jetzt erklärt, dass er sich nicht an diese Gepflogenheit halten und einen solchen Auftrag an die FPÖ nie unterzeichnen werde. Das Gegenstück dazu: Hofers frühere Ankündigung, einem allfälligen Freihandelsabkommen USA–EU die Unterschrift zu verweigern. So viel zur Möglichkeit, Gräben zuzuschütten.

Wie viel Österreich steckt in der Schweiz? 

Zutreffend wurde gesagt, dass zwischen den beiden Lagern eine Wasserscheide verläuft, die sich in unterschiedlichen Hälftelungen durch ganz Europa zieht. In der Schweiz gibt keine Präsidentschaften, die – wie in diesem Jahr in den USA und im nächsten Jahr in Frankreich – alternativ zu besetzen sind und vor dem Zugriff der äusseren Rechten geschützt werden müssen.

Uns bewahren das Mehrparteiensystem der permanenten Grossen Koalition sowie die Rotation des Präsidialamts davor, dass wir eines unschönen Tages aufwachen und das ganze Land in den Händen eines rechtsradikalen Staatschefs liegt. Dies allerdings um den Preis, dass diese Kräfte auch ohne Mehrheit via arithmetisch verstandene Konkordanz zugesicherte Plätze in der Regierung haben und die Koalitionspartner der rechten Mitte ihnen – aus mangelnder Standfestigkeit oder aus innerer Sehnsucht nach ähnlichen Positionen – über Gebühr Rechnung tragen.

Die in unserem Land schwächelnden Grünen haben verständlicherweise über den Sieg der österreichischen Schwesterkräfte gejubelt. Hätte die SVP gratuliert, wenn der FPÖ-Kandidat gesiegt hätte? Öffentlich sicher nicht, obwohl FPÖ-Chef Strache im Herbst 2015 der SVP zum Wahlsieg gratuliert hatte. Die fassbare Gemeinsamkeit beschränkt sich darauf, dass die beiden Parteien die Dienste der gleichen PR-Agentur in Anspruch nehmen. Ein Kommentator bemerkte zutreffend, dass trotz mancher Übereinstimmungen FPÖ und SVP keine Zwillinge, sondern allenfalls Geschwister seien.

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