«Solange nicht alle Ethnien akzeptiert sind, wird es keine Demokratie geben»

Die ehemalige Bürgermeisterin des osttürkischen Stadtbezirks Van-Bostaniçi lebt seit rund zehn Monaten als anerkannter Flüchtling in der Schweiz. In der Türkei drohen der kurdischen Politikerin 13 Jahre Haft. Im Interview äussert sie sich zur Repression unter Präsident Recep Tayyip Erdogan und erklärt, weshalb im Juli eher ein Machtkampf als ein Putsch stattfand.

«Eigentlich war die Türkei nie wirklich demokratisch»: Die ehemalige Bürgermeisterin des ostanatolischen Stadtbezirks Van-Bostaniçi musste ihr Land aus politischen Gründen verlassen.

(Bild: Michel Schultheiss)

Die ehemalige Bürgermeisterin des osttürkischen Stadtbezirks Van-Bostaniçi lebt seit rund zehn Monaten als anerkannter Flüchtling in der Schweiz. In der Türkei drohen der kurdischen Politikerin 13 Jahre Haft. Im Interview äussert sie sich zur Repression unter Präsident Recep Tayyip Erdogan und erklärt, weshalb im Juli eher ein Machtkampf als ein Putsch stattfand.

In der Türkei war Nezahat Ergünes fünf Jahre lang Bürgermeisterin und auch schon Kandidatin für das nationale Parlament. Seit rund zehn Monaten lebt die kurdische Politikerin nun als anerkannter Flüchtling in Lausanne. 

Vergangene Woche war Ergünes in Basel zu Gast beim Verein Städtepartnerschaft Basel-Van. Seit Jahren unterstützt der Basler Verein verschiedene Projekte in der türkischen Stadt, wo Ergünes bis 2014 im Stadtteil Bostaniçi amtete. Zu diesen Projekten gehört etwa eine Wäscherei, ein Gesundheits- und ein Bildungszentrum oder auch eine Hilfsaktion, als in Van 2011 die Erde bebte. 

Nezahat Ergünes ist seit 2000 politisch aktiv. Sie war Mitglied der «Partei des Friedens und der Demokratie» (BDP), der Nachfolgerin der prokurdischen DTP. Inzwischen heisst sie «Demokratische Partei der Regionen» (DBP). Die DBP vertritt auf lokaler Ebene Interessen der Kurden und anderer Minderheiten und ist so eine Art regionale Schwesterpartei der linksgerichteten HDP, die 2015 ins nationale Parlament einziehen konnte. 

Der türkisch-kurdische Konflikt schwelt in Van schon lange. 2009 liess Ankara in der ostanatolischen Stadt nahe der Grenze zum Iran mehrere Politiker verhaften. Partner aus Basel besuchten mehrmals den darauf folgenden Prozess, der nach fünf Jahren ohne Urteil endete. Die Repression ging weiter, auch während Ergünes Amtszeit: Bei einer Polizei-Razzia 2012 in der durch den Basler Verein unterstützten Wäscherei wurde Ergünes Assistentin festgenommen, zwei Jahre nach dem Ende ihrer Legislaturperiode geriet sie dann selbst ins Visier der türkischen Behörden.

Bei ihrem Besuch in Basel erklärt Ergünes ihre Sicht der Dinge.

Frau Ergünes, wie kam es, dass Sie in der Schweiz Asyl beantragten?

Ich wurde in der Türkei zu 13 Jahren Haft verurteilt. Weitere hängige Verfahren hätten womöglich die Haftdauer noch verlängert. Wegen des Freundschaftsvereins in Basel fiel meine Wahl auf die Schweiz.

Weshalb wurden Sie überhaupt angeklagt?

Man hat mir unterstellt, ich sei Anhängerin und Mitglied der KCK, der Union der Gemeinschaften Kurdistans.

Wie kam es zu dieser Anklage?

Ich habe im Nachhinein die Quittung für meine Amtsführung erhalten. Wir wollten möglichst basisdemokratisch reagieren, gingen hin, wo es Streit und soziale Probleme gab, und haben vermittelt als Stadtverwaltung. Vor allem aber haben wir Frauenarbeit und kulturell-soziale Arbeiten gefördert. Wegen solcher Tätigkeiten hat man uns unterstellt, Geld von der PKK zu erhalten: Heute wiederum wirft man meinen Kolleginnen vor, die PKK finanziell unterstützt zu haben. Dabei sind wir eine autonome Partei. Wir haben bloss in der Zeit der Friedensgespräche Kontakte zwischen Regierung und der PKK hergestellt – ganz offiziell.

Was hielten Sie den Vorwürfen entgegen?

Unsere Partei, die DBP, wurde von mehreren Rechtsanwälten vertreten. Diese haben darauf hingewiesen, dass die Vorwürfe im türkischen Gesetz keine Grundlagen haben. In allen unseren Dossiers konnte man uns keine einzige Straftat nachweisen – trotzdem wurden diese Urteile verhängt. Inspektoren haben zudem unsere Geschäftsberichte eingesehen und konnten uns keine einzige Unregelmässigkeit nachweisen.

«Rechtsanwältinnen rieten mir, die Türkei zu verlassen, oder in Kauf zu nehmen, im Gefängnis zu landen.»

Und trotzdem wurden Sie verurteilt.

Um die Unterstützung aus der Bevölkerung zu brechen. Wir hatten trotz begrenztem Budget grossen Rückhalt in der Bevölkerung. Die DBP regierte in drei von vier Grossstädten Westkurdistans. 

Wie gingen Sie mit all dem um?

Nach meiner Tätigkeit als Bürgermeisterin war ich weiterhin politisch aktiv. Rechtsanwältinnen rieten mir, die Türkei zu verlassen, oder in Kauf zu nehmen, im Gefängnis zu landen. Nach der Urteilsverkündigung fasste ich den Entschluss auszureisen.

Wie war es möglich, unbehelligt die Türkei zu verlassen?

Ich reiste aus, bevor das Urteil rechtskräftig war. Als ich den Bus von Diyarbakır nach Istanbul bestieg, wurde ich von der Polizei kontrolliert. Ich blieb ruhig, habe sie nicht provoziert und gesagt, ich käme bald wieder zurück. In Istanbul nahm ich das Flugzeug.

Welche Position im Konflikt mit der PKK vertreten Sie denn?

Zu den Schwerpunkten in meiner politischen Tätigkeit gehörten vor allem Frauenrechte. Zudem denke ich, dass die Kurdenproblematik zuerst gelöst werden muss, damit überhaupt eine Demokratisierung eintreten kann. Die Vorgehensweise meiner Partei ist an einen Vorschlag von Abdullah Öcalan angelehnt: eine friedliche Lösung des Konflikts. Auch die türkische Regierung hat mehrmals gesagt, dass eine Lösung nur zusammen mit Öcalan möglich sei. Dementsprechend hat sie Friedensverhandlungen lanciert. Damit wurde eine neue Phase eingeläutet: 2013 kam es zu zur sogenannten Dolmabahçe-Vereinbarung mit kurdischen Politikern. Seit Juli 2015 liegt aber der Friedensprozess auf Eis. Inzwischen leugnet Präsident Recep Tayyip Erdogan diese Einigung. Die Folgen sehen wir jetzt.

«Programme, die die AKP-Propaganda nicht mitmachten, wurden dichtgemacht – sogar ein kurdischer Kinderkanal ohne politische Inhalte.»

Inwiefern?

Seit Ende letzten Jahres wurde die Infrastruktur der kurdischen Städte zerbombt, viele Menschen wurden dabei verhaftet oder getötet. Erdogan ist faktisch zu einem Diktator geworden. Dagegen stellten sich viele Akademiker, Gewerkschafter und Lehrer. Viele unserer demokratisch gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden abgesetzt und durch Erdogan-Anhänger ersetzt. Die Immunität aller HDP-Parlamentarier samt Co-Präsidenten wurde aufgelöst. Viele Fernseh- und Radiostationen, die sich gegen Erdogans Politik wandten und die AKP-Propaganda nicht mitmachten, wurden dichtgemacht und ihr Inventar beschlagnahmt – sogar bei einem kurdischen Kinderkanal ohne politische Inhalte. Man könnte die Liste ohne Weiteres beliebig verlängern.

Wie beurteilen Sie den Putschversuch gegen Erdogan im Juli dieses Jahres?

Ich glaube nicht, dass das ein Putschversuch war. Vielmehr hat ein Machtkampf stattgefunden. Richter, die uns verurteilt hatten, wurden wegen Verbindungen zu Fethullah Gülen inhaftiert. Sicherheitsleute, aber auch Justizpersonal, die einst gegen Kurden vorgegangen waren, waren nun selbst der behördlichen Gewalt ausgesetzt.

Die Jäger Ihrer Leute wurden also selbst zu Gejagten.

Ja. Aber auch wenn das Leute sind, die gegen uns angegangen sind: So sollte kein Mensch behandelt oder verfolgt werden, wenn er mit Gülen in Verbindung steht. Doch eigentlich war die Türkei nie wirklich demokratisch. Das Vergangene wird verklärt, weil das Neue noch schlimmer erscheint. Erdogan hat die Repression noch gesteigert. Solange nicht alle Ethnien akzeptiert werden, wird es keine Demokratie geben.

AKP-Anhänger argumentieren, Erdogan sei demokratisch gewählt. Die Opposition und die westliche Presse seien bloss neidisch auf seine Popularität.

Natürlich ist er demokratisch gewählt worden, doch er geht undemokratisch vor, um sich an der Macht zu halten. Er hielt zunächst sein wahres Gesicht verborgen. Sobald kritische Töne kommen, hebt er seine positiven Versprechen hervor. Zudem spricht er die Leute in ihren religiösen Gefühlen an. Anhand seiner Taten sehen aber auch viele, dass er eben nicht derjenige ist, der dem Land den Frieden gebracht hat. Er polarisiert die Türkei und grenzt aus.

«Wir sind sehr enttäuscht von der Weltgemeinschaft. Ihr Schweigen hat Erdogan nur darin bestärkt, die Repression weiterzuführen.»

Die Regierung behauptet, die militärische Offensive seit 2015 richte sich keineswegs gegen die kurdische Bevölkerung – nur gegen terroristische Aktivitäten.

So argumentieren Menschen, die diese Politik nicht verstehen wollen. Warum werden all diejenigen verunglimpft, inhaftiert und verlieren ihre Jobs, die diese Politik verurteilen? Vertreter von Nichtregierungsorganisationen etwa oder Journalisten, nur weil sie zum Beispiel die prokurdische Zeitung «Özgür Gündem» unterstützen oder ganz einfach Frieden haben wollen? Wie kann es sein, dass in Cizre eine hochschwangere Frau zusammen mit ihrem Schwager, der ihr zur Hilfe eilt, erschossen werden? Sie soll eine Terroristin gewesen sein? Wie kann sie eine Terroristin sein? Nun naht der Winter und viele Menschen stehen in den zerstörten Städten auf der Strasse.

Und die Welt schaut zu.

Wir sind sehr enttäuscht von der Weltgemeinschaft. Auch im Europaparlament wird keine Kritik geäussert, obwohl es Berichte von Human Rights Watch und anderen Organisationen gibt, die unter anderem festhalten, wie etwa 150 Menschen bei lebendigem Leib in einem Keller verbrannt wurden. Dieses Schweigen hat Erdogan nur darin bestärkt, die Repression weiterzuführen.

Haben Sie solche Geschehnisse persönlich miterlebt?

Ich selbst war nicht in diesem Mass betroffen, aber viele meiner Bekannten. Drei Freundinnen von mir, die in Silopi politisch tätig waren und dabei immer mit einem Bein im Gefängnis standen, wurden ermordet. Dabei haben sie nichts anderes als legale Politik betrieben. Sie gehörten meiner Partei an, der DBP.

Angesichts dieser Situation: Was könnte die Schweizer Regierung aus Ihrer Sicht tun?

Sie sollte die Türkei aufrufen, sich an demokratische Grundwerte und Menschenrechte zu halten. Politisch Aktiven gibt das die Kraft, weiterhin für demokratische Grundwerte einzustehen.

Sie waren Bürgermeisterin, nun leben Sie als Flüchtling in Lausanne, wo Sie kaum jemanden kennen. Wie haben Sie diese Umstellung erlebt?

Ich wurde aus der Familie und dem sozialen Umfeld herausgerissen. Das ist nicht einfach. Gleichzeitig war ich auch beeindruckt: Die Menschen hier müssen sich keine Sorgen wegen Repressalien machen, nur weil sie eine andere Sprache sprechen oder einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Da wo ich herkomme schon. Eines der Ziele unserer Partei ist ein ähnliches System, wie es die Schweiz mit den Kantonen hat. Hier werden vier verschiedene Sprachen gesprochen. Das wünsche ich mir auch für mein Land. Aber ich bin in ein Land gekommen, in dem ich die Sprache nicht beherrsche und mich politisch nicht betätigen kann. Daher bin ich schon sehr eingeengt.

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