Die Wahlen am Sonntag sind ein Schicksalstag für Tayyip Erdogan, doch viele Wähler sind politikmüde.
Am Anleger von Kadiköy, wo die Pendler morgens aus der U-Bahn strömen und zu den Fähren hasten, die sie vom asiatischen Ufer Istanbuls auf die europäische Seite des Bosporus bringen, sind sie alle vertreten: Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat hier ebenso einen Wahlkampfstand aufgebaut wie die bürgerliche Oppositionspartei CHP, die nationalistische MHP und die pro-kurdische HDP. Aber die wenigsten Passanten würdigen die Flugblätter und Plakate auch nur eines Blicks. Schon zum zweiten Mal in fünf Monaten sollen die Türken am Sonntag ein neues Parlament wählen. Viel Begeisterung ist nicht zu spüren. Dabei steht viel auf dem Spiel.
Der Name des Mannes, um den es am Sonntag geht, steht auf keinem Wahlzettel. Die knapp 56 Millionen wahlberechtigten Türken entscheiden nicht nur über die Zusammensetzung der künftigen Grossen Nationalversammlung. Es geht um die Zukunft von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan – und einen möglichen Systemwechsel in der Türkei. Erdogan hofft am Sonntag auf eine starke Mehrheit für seine AKP. Dann könnte er eine Verfassungsänderung auf den Weg bringen und ein Präsidialsystem installieren, das ihm fast unumschränkte Macht gäbe. Verfehlt die AKP dagegen erneut die absolute Mehrheit, muss Erdogan seine hochfliegenden Pläne wohl erst einmal begraben.
Erdogan hofft, die Wähler würden den «Fehler» korrigieren.
Im Frühsommer ging der erste Anlauf daneben. Bei der Parlamentswahl vom 7. Juni stürzte die AKP von knapp 50 auf 41 Prozent ab – und verlor erstmals seit über zwölf Jahren ihre absolute Mehrheit. Das Wahlergebnis war auch eine schwere persönliche Niederlage für Erdogan. Denn obwohl die Verfassung den Präsidenten zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet, hatte er sich im Wahlkampf ungeniert für die AKP ins Zeug gelegt. Jetzt hofft er darauf, dass die Wähler ihren, wie er es nennt, «Fehler» vom Juni korrigieren.
Aber die meisten Türken gehen eher lustlos oder trotzig zu den Urnen. Wahlmüdigkeit macht sich breit. «Sollen wir etwa so lange wählen, bis Erdogan das Ergebnis passt?», fragt die 23-jährige Istanbuler Studentin Ayse. Die in der Türkei sonst vor Wahlen übliche volksfestartige Stimmung wollte schon deshalb nicht aufkommen, weil dunkle Schatten über diesem Wahlkampf lagen.
Der Kurdenkonflikt flammt wieder auf – angefacht von Erdogan, wie viele Kritiker glauben, der damit Stimmen aus dem nationalistischen Lager mobilisieren wolle. Aber nicht nur aus den Kurdenprovinzen im Südosten kommen fast täglich Meldungen über Tote und Verletzte. Am 10. Oktober sprengten sich zwei Selbstmordattentäter auf dem Bahnhofsvorplatz von Ankara inmitten einer Friedenskundgebung in die Luft und rissen über 100 Menschen mit sich in den Tod. Mindestens einer der beiden Täter hatte Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Die versprochene «neue Türkei» versinkt im Treibsand.
Eine «neue Türkei» hatte Erdogan den Wählern im Frühjahr versprochen, er wollte das Land zur Führungsmacht der Region aufbauen. Stattdessen gerät die Türkei nun immer tiefer in den Treibsand der ethnischen und religiösen Konflikte des Nahen Ostens. Auch deshalb hat die AKP ihre Strategie geändert. Von der «neuen Türkei» ist nicht mehr die Rede, zumal nun auch noch die Wirtschaft schwächelt. Stattdessen versucht die Regierungspartei mit Slogans wie «Mit Eifer und Liebe wie in alten Tagen» von der wachsenden Arbeitslosigkeit, den steigenden Preisen, der Bedrohung durch den Terror abzulenken und an die alten Errungenschaften der Ära Erdogan zu erinnern.
Wie kein anderer seit dem legendären Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) hat Erdogan die moderne Türkei geprägt, seit 2003 als Premierminister, jetzt als Präsident. Die Massenproteste vom Sommer 2013 konnten ihm ebenso wenig anhaben wie die hernach aufgekommenen Korruptionsvorwürfe. Als Staatspräsident zieht Erdogan seit dem Sommer 2014 immer mehr Macht an sich. Der von ihm installierte Premierminister Ahmet Davutoglu gilt als seine Marionette. Kritiker werfen Erdogan vor, dass er demokratische Rechte wie die Meinungsfreiheit demontiert, die Justiz gängelt und die Gewaltenteilung untergräbt.
Die AKP-Strategie dürfte auch dieses Mal scheitern
Erdogan, der den vorangegangenen Wahlkampf dominierte, hält sich diesmal zurück. «Das zeigt: Auch Erdogan rechnet nicht mehr mit einem überwältigenden Sieg der AKP», sagt der Politikberater Suat Özcelebi. Tatsächlich lassen die Umfragen ein ganz ähnliches Wahlergebnis wie Anfang Juni erwarten. «Die von Erdogan und der AKP verfolgte Strategie der Polarisierung geht nicht auf, das zeigen die Umfragen», sagt Politikberater Özcelebi.
Um ihre im Juni verlorene absolute Mehrheit zurückzuerobern, müsste die AKP vor allem eines schaffen: Sie müsste die vor viereinhalb Monaten erstmals ins Parlament eingezogene pro-kurdische Partei HDP unter die Zehnprozenthürde drücken und so wieder aus der Nationalversammlung vertreiben. Doch danach sieht es nicht aus, so sehr sich Erdogan und Davutoglu auch bemühen, die HDP, die zu einem Sammelbecken linker und liberaler Regierungskritiker geworden ist, als politischen Arm der verbotenen kurdischen PKK hinzustellen – jener PKK, mit der die Regierung noch bis vor wenigen Monaten über eine Lösung der Kurdenfrage verhandelte.
«Erdogan hat den Friedenstisch umgeworfen»
«Wir waren sehr nah an einer friedlichen Lösung», sagt der HDP-Politiker Garo Paylan. «Doch Erdogan hat den Friedenstisch umgeworfen.» Paylan wirft der Regierung «Goebbels-Taktiken» vor, etwa wenn sie versucht, Kurden für den Terroranschlag von Ankara verantwortlich zu machen. «Wir gehen jetzt von Tür zu Tür, reden mit den Wählern, und versuchen sie davon zu überzeugen, dass die HDP ihren Willen zum Frieden stets bewahrt hat.» Paylan, der in Istanbul für ein Parlamentsmandat kandidiert, ist zuversichtlich. Er glaubt, dass die HDP ihr Wahlergebnis vom Juni, als sie 13 Prozent erreichte, sogar übertreffen kann. «Wir streben 20 Prozent an.»
Das erscheint zwar sehr hoch gegriffen, aber kommt die HDP erneut ins Parlament, dürfte es für die regierende AKP sehr schwer werden, eine absolute Mehrheit zu erreichen. Sie müsste dann versuchen, eine Koalition zu bilden. Für Erdogan wäre das ein Alptraum. Die Pläne für ein Präsidialsystem, das alle anderen Parteien strikt ablehnen, wären damit vom Tisch. Erdogan verlöre auch seinen Einfluss auf die Regierungsgeschäfte. Schlimmer noch: Die Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seine Familie könnten wieder hochkommen. Damit wird der kommende Sonntag zu einem Schicksalstag für Erdogan.