Sommaruga will 40 syrische Kontingentsflüchtlinge aufnehmen

Die Schweiz prüft eine Aufnahme von rund 40 syrischen Kontingentsflüchtlingen. Es ist der Versuch der Politik, an die humanitäre Tradition der Schweiz anzuknüpfen.

Der Bundesrat denkt seit der Syrien-Krise wieder ernsthaft über Flüchtlings-Kontingente nach. (Bild: © Muhammad Hamed / Reuters)

Die Schweiz prüft eine Aufnahme von rund 40 syrischen Kontingentsflüchtlingen. Es ist der Versuch der Politik an die humanitäre Tradition der Schweiz anzuknüpfen. Was heute schon absehbar ist: Es bleibt höchstens ein symbolischer Beitrag.

Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen hat die Schweiz um die Aufnahme von Kontingentflüchtlingen aus Syrien gebeten. Wie das Bundesamt für Migration am Montag gegenüber «10vor10» sagte, handelt es um rund 40 Flüchtlinge. Der Antrag des UNHCR wird zurzeit geprüft.

Justizministerin Simonetta Sommaruga möchte die Flüchtlinge aufnehmen: «Dass es für so eine kleine Zahl an anerkannten Flüchtlingen in unserem Land Platz hat, da bin ich sicher, da wird auch das Volk Ja sagen», sagte sie gegenüber «10vor10». Die Bevölkerung sei sehr sensibilisiert und sehe, was in Syrien ablaufe. «Und wie viele Menschen in äusserster Not sind.»

Hardliner und Maurer bereiteten Weg vor

Sommaruga hatte sich bereits im August positiv geäussert zur Aufnahme von Kontingentsflüchtlingen aus Syrien. Am Anfang der Debatte stehen aber zwei Männer, von denen man es nicht unbedingt erwartet hätte. Zuerst war es der Berner Regierungsrat Hans-Jürg Käser, Präsident der Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren und ein Hardliner in Asylfragen, der sich öffentlich für die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten aus Syrien aussprach. Es folgte wenige Tage danach SVP-Bundesrat Ueli Maurer, der in Abwandlung seiner üblichen Klage über fehlende Unterkünfte für reguläre Asylbewerber, die an «Leib und Leben» bedrohten Syrer als Flüchtlinge in die Schweiz einlud.

Die Stossrichtung der beiden bürgerlichen Politiker war deutlich zu erkennen: Lieber ein begrenztes (und kontrollierbares) Mass von «echten Flüchtlingen» als ein steter Strom von Asylbewerbern, die ins langwierige Asylverfahren aufgenommen werden müssen. Kontingentsflüchtlinge werden vor Ort durch das UNHCR, das Flüchtlingshochkommissariat der UNO, auf ihre Schutzwürdigkeit geprüft und gelten bereits bei ihrer Ankunft im Zielland als anerkannte Flüchtlinge.

Eine schweizerische Kaskade

Die Wortmeldungen von Käser und Maurer wurden in der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen und so war der Weg frei für den nächsten Schritt in der typisch schweizerischen Kaskade von vager Idee, erster Prüfung, öffentlicher Abwägung, vertiefter Prüfung, abschlies­sender Prüfung und eventueller Umsetzung: der Auftritt von Justizministerin Simonetta Sommaruga. Während eines Spaziergangs der Aare entlang referierte sie über den Konflikt in Syrien.

Das Wichtigste sei die Hilfe vor Ort, sagte die Bundesrätin, das entsprechende Budget sei um zwei Millionen auf zehn Millionen Franken erhöht worden. Zudem sei die Schweiz bereit, ein Kontingent von Flüchtlingen aufzunehmen. «Es muss eine international abgesprochene Aktion sein», sagte Sommaruga, «sonst ist es nicht mehr als eine Beruhigung unseres Gewissens.» Und, als zweite Bedingung, müsse die Anfrage direkt vom UNHCR erfolgen. Nun ist der Fall also eingetreten, die Gegner der Aufnahme sind dieselben: Die SVP hatte sich bereits bei der Wortmeldung von Käser und Maurer dagegen ausgesprochen, nun äusserte sich nicht nur Toni Brunner negativ, sondern auch FDP-Präsident Philipp Müller.

Es ist eine risikolose Spekulation, wenn man nun davon ausgeht, dass die beteiligten Stellen in Kürze den Abschluss ihrer Verhandlungen und die definitive Aufnahme eines Kontingents von syrischen Flüchtlingen trotzdem bekannt geben werden. Der Krieg in Syrien ist in der Schweizer Öffentlichkeit zu präsent, als dass die beteiligten Politiker noch einen Rückzug machen könnten. Sollte sich der Gesamtbundesrat gegen ein grösseres Kontingent wehren, könnte Simonetta Sommaruga immer noch in eigener Kompetenz ein Kontingent von hundert Flüchtlingen bewilligen. Klar ist heute: Die Schweiz nimmt die zehn Jahre lang sistierte Politik der Kontingentsflüchtlinge wieder auf.

Eine Schweizer Erfolgsgeschichte

Damit knüpft die Regierung an jene Zeiten an, die für das vornehmlich gegen innen gerichtete Image unserer «humanitären Tradition» stilbildend gewesen sind. In der Zeit zwischen 1950 und 1995 nahm die Schweiz Tausende von Kontingentsflüchtlingen auf, die nach einem Konflikt in ihrem Land eine neue Heimat suchten. 1956 kamen 12’000 Ungarn in die Schweiz, 1968 8000 Tschechoslowaken, 1977 bis 1981 7000 Flüchtlinge aus Vietnam, dazu eine vierstellige Zahl aus Tibet, Chile, Polen und Bosnien. Eine «Erfolgsgeschichte» nannte der Autor Michael Walther die Politik der Kontingentsflüchtlinge an einem Symposium zum Thema vor drei Jahren. Eine Erfolgsgeschichte mit einer stark politischen Komponente: «In den Fällen Ungarn, Tschechoslowakei und Tibet solidarisierte sich die Schweizer Bevölkerung mit kleinen Völkern, die von einem übermächtigen Feind unterdrückt wurden. Und auch Vietnam und Polen passen in das Links-rechts-Schema der damaligen Zeit», sagte Walther am Symposium, das 2009 zum Ziel hatte, die Politik der Kontingentsflüchtlinge, die während des Bosnien-Kriegs am Ende der 90er-Jahre aus finanziellen und politischen Gründen eingestellt wurde, wieder zu aktivieren.

Eine Frage der Wahrnehmung

Dass die Schweiz gerade jetzt ihre alte Politik wieder aktiviert, hat – wie während der Zeit der Ungarn-Flüchtlinge – stark mit Wahrnehmung zu tun. Die Wahrnehmung eines brutalen Diktators, der sein Volk unterdrückt, die Wahrnehmung einer Katastrophe, die nicht weit von uns stattfindet. «Durch die Berichterstattung steigt die Bereitschaft, zu helfen», sagt Beat Meiner, Generalsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, «obwohl die meisten Leute die Lage nicht gut kennen.»

Heute sei das UNHCR hauptsächlich damit beschäftigt, den Menschen das Leben zu retten. «Wenn wir von einem Flüchtlingskontingent aus Syrien reden, dann geht um es jene Flüchtlinge, die bereits vor dem Krieg in Syrien waren.» Eine Million sind das, aus dem Irak, aus Afghanistan, aus Somalia.

Beat Meiner freut sich, dass die Schweiz «endlich» wieder bereit ist, die alte Kontingentspolitik aufzunehmen, er fordert aber gleichzeitig eine Weiterentwicklung. Mit einem fest eingestellten Budgetposten von 50 Millionen Franken beispielsweise könnten pro Jahr 500 Kontingentsflüchtlinge dauerhaft aufgenommen werden. «Das wäre ein schöner Beitrag», sagt Meiner.

Viel zu kleine Kontingente

Aber auch ein beschränkter. Das wird einem spätestens bewusst, wenn man sich die grossen Zahlen anschaut. Das UNHCR rechnet momentan mit einem Bedarf von 800 000 Neuan­siedlungs-Plätzen. Die jährlichen Kontingente betragen aber lediglich 80 000 Plätze, wovon 90 Prozent die USA, Australien und Kanada stellen.

In Europa findet nur ein Bruchteil der Flüchtlinge Schutz, die meisten von ihnen in skandinavischen Ländern. Norwegen bietet etwa jährlich 1200 Plätze für Kontingentsflüchtlinge an. Die weitaus grösste Zahl der Flüchtlinge schafft es gar nicht in die industrialisierte Welt. Von den weltweit geschätzten 43 Millionen Vertriebenen leben zwei Drittel als Flüchtlinge im eigenen Land. Und von jenen, die es über die Grenze schaffen, bleiben 80 Prozent in ihrer Herkunftsregion, in erster Linie in Entwicklungsländern.

 

Quellen

Statement von Hans-Jürg Käser.

Statement von Ueli Maurer.

Statement von Simonetta Sommaruga.

Pressemitteilung der SVP.

Ein Abriss der Geschichte der Kontigentsflüchtlinge von Michael Walther.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.08.12

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