Spuren einer Flucht mit dem Velo

C.H. ist mit seinem Velo vor der Basler Polizei geflüchtet. Trotz mehrmaliger Aufforderung zum Stopp fuhr er weiter – bis die Polizei ihn mit Pfefferspray zum Anhalten zwang. Doch damit fängt die Geschichte erst an.

C.H. ist mit seinem Velo vor der Basler Polizei geflüchtet. Trotz mehrmaliger Aufforderung zum Stopp fuhr er weiter – bis die Polizei ihn mit Pfefferspray zum Anhalten zwang. Doch damit fängt die Geschichte erst an.

C.H.* hat einen Fehler gemacht. «Einen grossen Fehler», sagt der Architekt selbst. Der Engländer mit Wohnsitz in Basel hat am Donnerstagabend eine Polizeikontrolle gesichtet, während er mit seinem Fixed-gear-Velo auf der Viaduktstrasse in Basel unterwegs war. Solche Velos sind vor allem bei Kurieren beliebt. Bei entsprechender Könnerschaft kann ein solches Velo auch ohne Bremsen gefahren werden (gebremst wird mit Gegendruck auf die Pedale), allerdings verstösst es dann rechtlich gesehen gegen die Strassenverkehrsverordnung. H. wusste, dass dies Ärger geben könnte. Der 31-Jährige war aber auf dem Weg ins Schaulager und zu einem Treffen mit seiner Frau, mit der er an diesem Abend den fünften Hochzeitstag feiern wollte. Um nicht in die Kontrolle zu kommen, drehte er deshalb um.

Was danach geschah, dazu gibt es mehrere Versionen: C.H. hat am Sonntag gegenüber «20 Minuten» gesagt, dass die Polizei kurz nach seinem U-Turn die Verfolgung aufgenommen habe. Er habe die Sirenen der Polizei gehört, sei in Panik geraten und versuchte weiter zu flüchten. Die Polizei habe ihm daraufhin den Weg abgeschnitten und ihn mit Pfefferspray besprüht.

Wegen des Reizstoffs habe er nichts mehr gesehen und dann gestoppt. «Ich hatte das Velo zwischen den Beinen, lief einen oder zwei Schritte, um das Gleichgewicht zu erlangen – dann riss mich ein Polizist vom Velo.» Der Beamte habe ihm die Arme hinter den Rücken gerissen und ihn Kopf voran zu Boden gestossen. H. erlitt Schürfungen und verlor einen Zahn.

Die Aktion der Polizei sei damit aber noch nicht beendet gewesen, sagt H. gegenüber der TagesWoche. Während er benommen und blind vom Reizstoff auf dem Boden lag, habe ihn einer der Beamten «mehrmals ins Gesicht geschlagen» und «rammte wiederholt» seinen Kopf gegen den Boden. «Ich habe versucht, zu fliehen – das war ein grosser Fehler», sagt der 31-Jährige, «aber ich habe mich nach dem Pfefferspray-Einsatz nicht mehr gewehrt.» Dieses Detail ist ihm wichtig, denn die Polizei hat den Fall anders rapportiert.

Polizei: «Nicht geschlagen, nicht getreten»

Polizeisprecher Andreas Knuchel sagt, dass die Polizei das «nicht verkehrstaugliche» Velo aus dem Fahrzeug gesichtet habe. «Die Beamten nahmen daraufhin die Verfolgung auf.» Sie forderten H. erst auf zu halten, schalteten dann die Sirene ein und forderten ihn erneut auf. «Er leistete weiterhin keine Folge, woraufhin die Beamten ihm einen Pfefferspray-Einsatz ankündigten, wenn er nicht stoppe.» Das habe er nicht getan. Die Polizei habe danach ihre Drohung aus dem fahrenden Fahrzeug heraus wahr gemacht. «Der Kontrollierte setze in der Folge die Flucht zu Fuss fort.» Die Beamten verfolgten ihn, dieses Mal ebenfalls zu Fuss. «Ein Polizist fiel dabei über das Velo auf den Mann», sagt Knuchel, danach sei dieser in Handschellen gelegt worden. «Der Flüchtige wurde weder geschlagen, noch getreten», hält Knuchel fest.

Die Geschichte fängt damit aber für C.H. erst an. «Während ich auf dem Boden in Handschellen lag, durchsuchten die Beamten mein Portemonnaie – und klopften Sprüche über meine Tochter, deren Bild ich darin hatte.» Auf dem Weg ins Spital hätten sie sich weiter über ihn lustig gemacht, und «sehr laut» Heavy-Metal-Musik gehört. In der Notaufnahme durfte er dann seine Frau nicht benachrichtigen. «Sie verweigerten mir ein Telefongespräch», sagt H.. Er habe sich daraufhin beklagt, die Reaktion sei aber nicht die Bewilligung des Telefonats gewesen, sondern dass die Polizisten – bis auf einen – «ihre Namensschilder entfernten». In seinen Augen wollten die Beamten den Vorfall vertuschen.

Dritte Version des Vorfalls im Arztprotokoll

Als Beleg dient ihm die dritte Version der Geschichte, jene die im Austrittsbericht der Notaufnahme des Unispitals protokolliert ist: «[…] Patient wollte sich heute von einer Polizeikontrolle auf dem Fahrrad entziehen und ist dabei gestürzt. Hat sich zusätzlich gewehrt und Pfefferspray erhalten ins Gesicht. […]» Das Protokoll der Notaufnahme wurde gemäss H. von der Polizei aufgegeben, sie entspreche nicht den Tatsachen.

Knuchel widerspricht nicht der Darstellung, dass H. kein Telefonat führen durfte. «In der Notaufnahme befand sich der Mann noch immer in der Kontrolle, während dieser sind keine privaten Gespräche erlaubt.» Zu den Namensschildern sagt Knuchel nur: «Der Polizeibeamte, der den Rapport verfasste, trug zu jeder Zeit sein Namensschild.» Was mit den anderen Beamten gewesen ist, darauf ging er nicht ein. Zum Protokoll des Unispitals wollte er sich gar nicht äussern. Das sei Sache des Spitals, so Knuchel.

«Ich habe nicht viel gesehen wegen des Pfeffersprays, aber ich wurde regelrecht vom Velo gerammt.»

C.H.

Aufgrund des Arztgeheimnisses kann sich das Unispital nicht zum konkreten Fall äussern. Spitalsprecher Martin Jordan sagt, das Standardprozedere sei, dass der Patient den Sachverhalt schildere, der in indirekter Rede protokolliert werde. Die Polizei könne aber auch Ergänzungen machen oder werde berücksichtigt, wenn der Patient nicht ansprechbar sei. «Wenn das Protokoll nicht stimmt oder der Patient Änderungswünsche hat, kann er sich jederzeit melden», sagt Jordan. «Wir behandeln, es ist nicht an uns, den Sachverhalt zu klären oder zu eruieren was genau geschehen ist.»

Aussage gegen Aussage

H. selbst sagt, er wolle nicht noch mehr Ärger machen, aber das Vorgehen der Polizei lasse ihn nicht los. Die Sprüche, der verweigerte Anruf und die fehlende Verhältnismässigkeit. «Ich habe nicht viel gesehen wegen des Pfeffersprays, aber ich wurde regelrecht vom Velo gerammt.» Dass die Polizei dann im Protokoll der Notaufnahme eine ganz andere Situation geschildert habe, sei für ihn ein Indiz, dass nicht alles rechtens lief.

Er wünscht sich deshalb eine Untersuchung des Einsatzes – nicht nur für sich selbst, sondern auch für ähnliche Fälle. «Es geht hier auch um den Respekt und die Professionalität der Polizei.» Im konkreten Fall steht Aussage gegen Aussage, ungeklärt bleibt aber nicht nur die Frage nach dem wirklichen Ablauf des Geschehens, sondern auch jene nach der Verhältnismässigkeit.

Staatsrechtsprofessor Markus Schefer sagt, dass «Pfefferspray und Gewalt bei einer Fahrradkontrolle nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden dürfen». Der Fall sei allerdings nicht ganz einfach einzuordnen ohne die detaillierten Angaben zum konkreten Geschehen und Verdacht: «Wenn die Polizei jemanden gesucht hat, auf den das Profil passte, dieser allenfalls sogar noch gefährlich wäre – dann wäre die Diskussionsgrundlage eine ganz andere», sagt Schefer.

«Wenn jemand dermassen versucht, einer Kontrolle zu entgehen, muss die Polizei davon ausgehen, dass mehr dahinter ist.»

Polizeisprecher Andreas Knuchel

Polizeisprecher Knuchel sagt, dass der Auslöser für die Kontrolle das «nicht verkehrstaugliche» Fahrrad gewesen sei. «Wenn jemand dermassen versucht, einer Kontrolle zu entgehen, muss die Polizei aber davon ausgehen, dass mehr dahinter ist.» Mit diesem Punkt argumentiert auch der ehemalige Polizeikommandant von Basel-Stadt, Markus Mohler.

«Wenn jemand ohne rechtliche Legitimation vom Velo gerissen wird, ist das etwas anderes, als wenn sich eine Person im Verkehr einer Polizeikontrolle widersetzt; diese Person macht sich damit schon strafbar», sagt Mohler. Da er dann auf mehrmalige Aufforderung nicht anhielt, habe die Polizei ihn stoppen müssen. «Verzichtet die Polizei darauf, ein Gesetz durchzusetzen, kann ja jede Person handeln, wie es ihr beliebt; das ist wohl nicht die Lösung.»

Letztlich müsste wohl ein Gericht den Fall beurteilen. Soweit ist H. aber noch nicht. Er hat sämtliche Dokumente und Belege gesammelt und will sich an die Opferhilfe wenden. Danach werde er entscheiden, ob er eine Beschwerde mache und wie es sonst weitergeht. «Eines ist sicher», sagt H., «ich will nicht, dass dieser Fall einfach unenthüllt bleibt.»

Zwei ähnliche Fälle aus Deutschland:

Was darf die Polizei tun, um einen Velofahrer zu stoppen? Die Frage hat Deutschland bereits mehrmals beschäftigt. Einen Fall griff die «Süddeutsche Zeitung» auf, darin geht es um Siegfried Bauer. Er soll von Polizisten schlimm zugerichtet worden sein: Der Augenarzt berichtete, dass zwei Beamte ihn vom Rad gerissen und später so auf den Boden geschleudert hätten, dass er bewusstlos geworden sei. Mehrere Zeugen bestätigten seine Version. Doch die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein.

In Rosenheim wurde ein 26-Jähriger von einem Polizisten vom Fahrrad gerissen, weil er nicht stoppte, als dieser «Halt, Polizei» schrie. Der Radfahrer hatte ein Rotlich missachtet, beide verletzten sich beim Einsatz des Beamten. Angeklagt wurde allerdings der Radler – aber nicht verurteilt. Gemäss «Rosenheim24.de» entschied das Gericht: «Der Beklagte musste im vorliegenden Fall nicht damit rechnen, dass der Polizeibeamte ihn bei voller Fahrt vom Fahrrad herunterreisst, um seine Anhaltung durchzusetzen. Hier standen die Risiken der Verfolgung einer etwaigen Ordnungswidrigkeit (möglicher Rotlichtverstoss des Radfahrers) durch den Polizeibeamten außer Verhältnis zu deren Zweck.» Die deutschen Kollegen schrieben: «Im Klartext: Die Aktion des Beamten war völlig überzogen.»

Artikelgeschichte

Ursprünglich war der Protagonist des Artikels mit vollem Namen aufgeführt. Mit Blick auf das Recht auf Vergessen hat die TagesWoche den Artikel angepasst. Wir haben zudem ein Bild entfernt, das C.H. so zeigte, dass er erkennbar gewesen ist.

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