Ratko Mladic, der frühere Armeechef der bosnischen Serben, ist wegen Genozids und auch «gewöhnlicher» Kriegsverbrechen von einem UN-Tribunal zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Unter seinem Befehl wurden in Srebrenica Tausende von Männern umgebracht und wurde die Zivilbevölkerung von Sarajevo jahrelang systematisch beschossen.
Unser Nachdenken darüber, was ein derartiges Urteil leistet, führt uns zu grundsätzlichen Fragen der Strafjustiz. Verbrechen, insbesondere Massenverbrechen sollten gar nicht erst stattfinden – haben sie trotzdem stattgefunden, was muss dann geschehen? Wir müssen schnell einräumen, dass ein solches Urteil die Folgen des strafbaren Handelns nicht wieder gut macht. Die Toten kehren nicht ins Leben zurück.
Urteil von hoher symbolischer Bedeutung
Aber es wird, wie es heisst, Gerechtigkeit («justice») hergestellt. Das sehen auch viele Angehörige von Opfern, Menschenrechtsaktivisten und Rechtsdenker so. Das ist auf der symbolischen Ebene von höchster Bedeutung. Mit einem solchen Urteil wird allerdings eine Eindeutigkeit hergestellt, die trotz der Autorität des Hohen Gerichts von der verurteilten Seite in der Regel nicht akzeptiert wird.
Wichtig ist die Vorstellung, dass Strafbarkeit von Handlungen davon abhält, diese überhaupt zu begehen: Prävention also in noch laufenden Konflikten wie für spätere Kriege. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ICTY ist bereits 1993 vom UN-Sicherheitsrat geschaffen worden, unmittelbar hat er jedoch kaum etwas bewirkt, und er dürfte auch inskünftig kaum abschrecken. Ein Beleg dafür sind die Kriegsverbrechen des syrischen Despoten Assad, die wohl ungesühnt bleiben werden.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg war die Rede von einer Siegerjustiz.
Das temporäre Tribunal von 1993, das in wenigen Tagen seinen Betrieb einstellen wird, wurde zum Modell für den permanenten Internationalen Strafgerichtshof (ICC), der erst 2003 seine Arbeit aufnahm und dabei von 124 Staaten unterstützt wird, nicht jedoch von den USA und von Russland.
Mit einem kurzen Rückblick in die Geschichte stossen wir auf die Kriegsverbrecher-Prozesse in Nürnberg und Tokio von 1945. Diese waren gewiss fällig, aber unter zwei Gesichtspunkten auch problematisch. Zum einen weil die dafür massgebende Rechtsbasis im Moment der Vergehen noch nicht bestand. Und zum anderen, weil auf den Richterstühlen selber Kriegsverbrecher sassen. Um die Kooperation der Sowjetunion zu sichern, wurde die von ihr angeordnete Ermordung von über 4000 polnischen Offizieren in Katyn ausgeklammert.
Ein etwas längerer Rückblick in die Geschichte führt in die Zeit nach Beendigung des Ersten Weltkriegs. Schon damals war die Rede von einer Siegerjustiz, aber die Verhandlungen waren ein Novum, weil damit nicht einzig die Art der Kriegführung (ius belli), sondern das Recht zur Kriegsführung (ius ad bellum) einer Rechtsbeurteilung unterzogen wurde. Wichtig wurde damit die sicher nicht immer leichte Unterscheidung zwischen erlaubtem Verteidigungskrieg und verbotenem Angriffskrieg.
Man hätte es als ideal empfinden können, wenn Mladic in Serbien und nicht in Den Haag der Prozess gemacht worden wäre.
Die 1918/1919 hochgekommene Idee, dem deutschen Kaiser Wilhelm II. den Prozess zu machen, wurde nicht ernsthaft verfolgt. Da wäre es um eine gerichtliche Beurteilung der von den Siegern politisch-vertraglich festgeschriebenen Kriegsschuld gegangen.
Hingegen wurden sehr wohl Prozesse zu einzelnen Kriegsverbrechen, also Verletzung des ius belli geführt und zwar im Lande selber, vor dem Reichsgericht Leipzig in den Jahren 1921-1927 wegen Verstössen gegen das eigene deutsche Militärstrafgesetz, das die internationale Haager Landkriegsordnung von 1907 umgesetzt hatte.
Dies erfolgte unter der für die Vorzeit nicht verantwortlichen Nachfolgeregierung der Weimarer Republik und führte zu nur wenigen Verurteilungen. Indem diese Verfahren im Lande selber durchgeführt wurden, versprach man sich einen heilsameren Effekt, als wenn sie nach einer Auslieferung der Verdächtigen im Ausland durchgeführt worden wären.
Genau dies wurde auch im Falle der Verbrechen in Jugoslawien diskutiert. Man hätte es als ideal empfinden können, wenn einem Milosevic, einem Karadzic oder nun einem Mladic auf serbischem Territorium und nicht im fernen Den Haag der Prozess gemacht worden wäre.
Die Auslieferung serbischer Kriegsverbrecher wurde möglich, weil Serbien den Erwartungen der EU entgegenkommen wollte.
Anders als viele Strafgerichtsfälle bewegen sich die Fälle der internationalen Gerichtsverfahren in Verhältnissen, in denen es auch die «andere» Seite gibt und diese sich ebenfalls Vergehen schuldig gemacht hat. Werden Schuldsprüche nicht symmetrisch verteilt, wird dies sogleich zur Delegitimierung des Gerichts benutzt.
Angesichts des konkreten Verhaltens ist es aber nicht Parteilichkeit, wenn mehr Serben verurteilt wurden. Die unbefriedigenden Freisprüche des serbischen Ultranationalisten Vojislav Šešelj und des kroatischen Generals Ante Gotovina haben an der grundsätzlichen Ablehnung des Gerichts nichts geändert.
Problematische Auslieferung
Die Auslieferung «eigener» Bürger (Landeskinder) an fremde Gerichte ist für alle Staaten stets höchst problematisch. Die Auslieferung serbischer Kriegsverbrecher wurde möglich, weil Serbien den Erwartungen der EU entgegenkommen wollte.
Inzwischen hat sich die politische Grosswetterlage aber verändert. Die geopolitischen Rivalitäten zwischen Russland und dem Westen und der Türkei haben wieder zugenommen und Nationalismen und Opfermythen wieder Auftrieb gegeben.
Das offizielle Serbien verdrängt allerdings nicht, was in Srebrenica geschehen ist, es verlegt sich auf die Formel, dass es auf allen Seiten Opfer gegeben habe und dass man die Vergangenheit hinter sich lassen und in die Zukunft blicken solle.
Die Schuld der Niederlande
Der Zufall oder die List der Geschichte hat dazu geführt, dass die Niederlande als Gastland des Jugoslawien-Gerichts und zugleich wegen der Soldaten des UN-Dutchbat selber in das Verbrechen verstrickt sind. Neben dem internationalen Gerichtsverfahren haben sich in den Niederlanden nationale Gerichte in mehreren Verfahren mit der Frage befassen müssen, ob die niederländischen Soldaten, die für die Sicherung der Schutzzone um Sebrenica eingesetzt waren, ihre Schutzpflicht gegenüber den Opfern sträflich verletzt hätten.
Neben den rein rechtlichen Fragen der Zuständigkeit spielte die Frage, was die Niederländer hätten wissen und welche Mittel sie hätten einsetzen können. Während eine weitergehende Verantwortung nicht attestiert wird, ist der niederländische Staat kürzlich doch schuldig gesprochen worden, weil niederländische Staatsbürger in Uniform die rund 350 bosnisch-muslimischen Männer und Knaben, die sich direkt auf dem Gelände des UN-Hauptquartiers befanden, den serbischen Mördern ausgeliefert hatten.
Eine andere Altlast hängt an Griechenland. Ein Korps von 100 griechischen Freiwilligen gehörte zu Mladics Truppen in Srebrenica. Söldner verdingen sich in den meisten Fällen unabhängig von politischen Übereinstimmungen. In diesem Fall zeigte sich aber die kirchlich-kulturelle Nähe zu den Serben. Es wurde zwar erklärt, dass von griechischer Seite gegen dieses Söldner-Korps Ermittlungen eingeleitet werden sollen, doch ist das bis heute nicht geschehen.
Das Urteil sorgt nicht für Versöhnung. Wäre es nicht zustande gekommen, hätte esVersöhnung aber noch schwerer gemacht.
Der ICTY hat 161 Personen angeklagt und in 84 Prozessen Schuldsprüche gefällt. Mladic ist nicht der Einzige mit lebenslänglicher Haft. Das Gericht hat, wie man so sagt, letzte Woche mit seinen Urteilen Geschichte geschrieben. Es hat aber auch Geschichte betrieben, indem es gegen 10’000 Beweisstücke sammelte und rund 600 Zeugen befragte. Der Wert dieser Dokumentation ist nicht zu unterschätzen. Selbst wenn die Verteilung von Verantwortung zur Zeit einigermassen klar ist, wird es stets Versuche geben, diese wieder infrage zu stellen und die historischen Erkenntnisse zu revidieren.
Diese Erkenntnisse standen allerdings schon vorher zur Verfügung. Sie lagen im doppelten Sinn auf der Strasse, und es gab höchst glaubwürdige Zeugen und Zeugenberichte. Noch immer sehr lesenswert ist die 2003 erschienene Publikation von Slavenka Drakulic: «Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht.»
Das Urteil brachte nun aber eine weitere Bekräftigung durch die formell zuständige Instanz, eben den ICTY. Es sorgt allerdings nicht dafür, dass die nötige Versöhnung eintritt. Wäre dieses Urteil nicht zustande gekommen, hätte es aber die Versöhnung noch schwieriger gemacht.
Die Kinder der Schlächter
Mladics Sohn akzeptiert das Urteil nicht, hält es für Kriegspropaganda. Ist er diese Treue gegenüber seinem Vater schuldig? Ist er nicht auf andere Weise ebenfalls Opfer seines Vaters? Hätte er statt zu protestieren wenigstens schweigen können?
Viele Argentinierinnen und Argentinier, Töchter und Söhne von Mitwirkenden an den Massenmorden der Junta-Jahre (1976-1983), haben sich dazu durchgerungen, gegen ihre Väter sogar vor Gericht auszusagen. Unter dem Titel «Historias Desobedientes»/«Geschichten des Ungehorsams» machen sie sich als Bewegung gegenseitig Mut bei der Verarbeitung der schrecklichen Hinterlassenschaft.
Wird es auch in Serbien und in der serbisch-bosnischen Republik Srpska je so weit kommen? In absehbarer Zeit sicher nicht. Heute ist man schon froh, wenn es da keine Bewegung zur Fortsetzung des aktiven Kulturkampfes gibt.