Paola Gallo, Geschäftsführerin des Vereins «Surprise», über die neue Armut in der Schweiz und mediale Kampagnen gegen die Sozialhilfe.
Klar, eine Zeitschrift wird am Basler Spalentorweg 20 auch produziert. Sogar eine sehr spannende und professionell gemachte. Vor allem aber ist der Verein Surprise eine Sozialfirma, die dort ansetzt, wo die staatlichen Behörden an ihre Grenzen stossen.
«Surprise» bietet Menschen, die beruflich und sozial ganz nach unten gespült worden sind, einen kleinen Verdienst, Tagesstrukturen, Beratung sowie eine Art Ersatzfamilie an. Rund 350 Strassenverkäufer bringen die zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift schweizweit unter die Leute; in Basel, wo sich auch der Geschäftssitz der 1997 gegründeten Firma befindet, sind es 70 bis 80 Verkäufer.
Seit bald vier Jahren leitet Paola Gallo «den Laden», wie sie sagt. Derzeit ist ein wenig Hektik angesagt: Diese Woche ist Premiere für die «sozialen Stadtrundgänge» in Zürich; in Basel werden die «Surprise»-Rundgänge seit rund anderthalb Jahren angeboten.
«Mein Kalender ist ziemlich voll», meinte die 49-Jährige beim telefonischen Vorgespräch. Sie fand dann aber doch noch einen Randtermin. Und nach dem anderthalbstündigen Interview wollte sie uns auf keinen Fall gehen lassen, bevor nicht eine Flasche «Amarone» geleert war: «So viel Zeit muss sein.»
Frau Gallo, was geht Ihnen bei Begriffen wie «Sozialhilfetourismus», «Sozialschmarotzer» oder «Asylmissbrauch» durch den Kopf?
Das sind Schlagworte, die ein scheinbares Missbehagen in der Bevölkerung wiedergeben. Ich finde, wir sollten im Umgang mit solchen Begriffen sehr vorsichtig sein.
Diese Begriffe haben aber wieder Hochkonjunktur. Warum eigentlich?
Weil sie eine komplexe Thematik simpel herunterbrechen. Die Gesamtausgaben der Sozialwerke sind nicht gestiegen. Realität ist aber: Unsere Sozialwerke sind den gegenwärtigen Problemen nicht mehr gewachsen. Es gibt schon lange keine Vollbeschäftigung mehr. Wir sind mit vielen Langzeitarbeitslosen konfrontiert. Die Zahl der Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind oder wären, aber keine beziehen, wächst bedrohlich. Und es gibt immer mehr Obdachlose in der Schweiz. Die Begriffe, die Sie genannt haben, sind deshalb gefährlich, weil sie insinuieren, dass viele Menschen unser Sozialsystem missbrauchen. Doch das ist nicht der Fall. Es ist nur eine ganz kleine Minderheit, die Lücken im System findet und diese ausnützt. Die grosse Mehrheit der Betroffenen ist real armutsgefährdet und braucht unsere Unterstützung.
Derzeit werden nicht nur die Sozialhilfe-Klienten, sondern auch die Helfer unter Beschuss genommen. Manche Medien kritisieren die sogenannte «Sozialindustrie» – eine Industrie, die von der Armut lebe, immer mehr wachse und Steuergelder verschleudere. Was halten Sie den Kritikern entgegen?
Es ist eine ganz schlimme Polemik, die hier stattfindet. Es ist heute leider so, dass nicht mehr die Armut bekämpft wird, sondern dass die Armen verfolgt und verunglimpft werden. Die Sozialhilfedebatte läuft völlig an der Realität vorbei und deckt sich überhaupt nicht mit meinen Erfahrungen.
«Niemand will in einem System landen, das einem sagt, was man zu tun und zu lassen hat.»
Wie sehen denn Ihre Erfahrungen aus?
Seit einem Jahr bietet der Verein «Surprise» «soziale Stadtführungen» in Basel an, neu auch in Zürich. Diese stossen auf grosse Nachfrage. Rückmeldungen zeigen mir: Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird bewusst, dass es alles andere als erstrebenswert ist, von staatlicher Sozialhilfe abhängig zu sein. Niemand will so leben. Niemand will in dieser Art abhängig sein und entmündigt werden. Niemand will in einem System landen, das einem sagt, was man zu tun und zu lassen hat. Unser Sozialsystem bietet keine Alternativen und schon gar keine Arbeitsplätze. Bei uns arbeiten Leute, die schon seit 15 Jahren das Magazin auf der Strasse verkaufen. Diese Menschen sind arm, und niemand bietet ihnen einen passenden, niederschwelligen Arbeitsplatz an. Wir bieten ihnen eine Verdienstmöglichkeit, beraten sie und sind für einige von ihnen auch eine Ersatzfamilie. Das ist die Realität.
Eine besonders schlimme Form der Armut ist Obdachlosigkeit. Laut dem Gassenverein «Schwarzer Peter» sind in Basel rund 500 Personen von versteckter Obdachlosigkeit betroffen – sie leben wochenweise mal hier, mal da, bei Bekannten, bei Verwandten. Spüren auch Sie diese Verschärfung des sozialen Klimas?
Ja. Bis vor Kurzem hatten wir es nur mit einer Handvoll Obdachloser zu tun. Deren Zahl ist markant gestiegen. «Surprise» kann diesen Leuten immerhin eine kleine Verdienstquelle garantieren. Seit 2008 ist es aber leider so, dass selbst diese Arbeit, also das Verkaufen von Zeitungen auf der Strasse, zunehmend unattraktiver wird.
Weshalb?
«Surprise»-Verkäufern, die Sozialhilfe beziehen, werden – je nach Kanton höhere oder tiefere – Freibeträge zugestanden, die nicht von den staatlichen Zuschüssen abgezogen werden müssen. Doch seit einigen Jahren handhabt die Sozialhilfe die Freibeträge viel restriktiver. 2007 hat jeder Surprise-Verkäufer im Schnitt etwa 140 Hefte verkauft, heute nur noch um die 65, da er das Geld der Sozialhilfe abgeben muss. Diese Entwicklung ist fatal, denn sie wird auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen. Und sie untergräbt bei vielen Bedürftigen den Anreiz, sich überhaupt noch für einen Job zu engagieren.
Wie sieht denn die Situation Basel aus?
Der Kanton Basel-Stadt ist in dieser Hinsicht vergleichsweise grosszügig. Hier dürfen die «Surprise»-Verkäufer 150 Franken für sich behalten.
«Arbeitslose Menschen brauchen eine Tagesstruktur, sie brauchen das Gefühl, benötigt zu werden.»
Mit anderen Worten sagen Sie also, dass die Sozialhilfebehörden überfordert sind?
Die Sozialhilfe ist in einer Zeit entstanden, als die Zahl der Armutsbetroffenen noch sehr klein war. Sie war eine Art Brückenangebot, das Leuten befristet über die Runden half, bis sie wieder im Arbeitsleben Fuss fassten. Das hat sich geändert. Die Sozialhilfe ist heute für viele die Endstation. Die Gesellschaft muss endlich anerkennen, dass sich viele Menschen trotz Integrationsmassnahmen, Beschäftigungsprogrammen und Coachings nicht mehr in den Arbeitsmarkt eingliedern lassen. In der modernen Wirtschaft gibt es für viele Menschen keinen Platz mehr.
Wie liesse sich dieses Problem denn aus Ihrer Sicht lösen?
Die Wirtschaft müsste gemeinsam mit dem Staat wieder niederschwellige Arbeitsplätze für Ungelernte etablieren. Langfristig senkt das die Kosten und nützt allen.
Einen solchen zweiten Arbeitsmarkt gibt es doch schon.
Ja, aber der vom Staat organisierte zweite Arbeitsmarkt erschöpft sich in Beschäftigungsprogrammen. Das reicht nicht. Es braucht wieder bezahlte niederschwellige Arbeitsplätze wie Tankstellen-Service oder das Einpacken und Transportieren von Einkäufen. Arbeitslose Menschen brauchen eine Tagesstruktur, sie brauchen das Gefühl, benötigt zu werden. Sie wollen wieder aktiv werden.
«Der soziale Abstieg kann heute sehr rasch passieren. Man muss nur krank werden, seinen Job und sein soziales Netz verlieren.»
Und wer soll diesen zweiten Arbeitsmarkt organisieren?
Wir von «Surprise» tun das zum Beispiel – und zwar nach wirtschaftlichen Kriterien. Wir erhalten keine staatliche Unterstützung und sind zu 65 Prozent selbstfinanziert; der Rest kommt über Spenden und Sponsoring zusammen. Und mit neuen Angeboten wie den sozialen Stadtrundgängen erschliessen wir neue Geschäftsfelder.
Wie steht es eigentlich wirtschaftlich um «Surprise»? Es gab Zeiten, da ging es dem Unternehmen sehr schlecht.
Bevor ich «Surprise» vor vier Jahren übernahm, hatte man 700 Stellenprozente abbauen müssen. Inzwischen läuft das Geschäft wieder besser, und auch der Heftverkauf ist gestiegen.
Wie viele Exemplare verkaufen Sie?
Wir setzen alle zwei Wochen schweizweit rund 16’000 bis 17’000 Exemplaren ab.
Immer mehr Menschen aus dem unteren Mittelstand sind von Armut betroffen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Der soziale Abstieg kann heute sehr rasch passieren. Man muss nur krank werden, seinen Job und sein soziales Netz verlieren. Gemäss Caritas Schweiz sind hierzulande rund eine Million Menschen von Armut betroffen. Von diesen sind 230’000 Sozialhilfebezüger. Etwa 350’000 Menschen leben unter dem Existenzminimum, und über 600’000 können sich gerade noch knapp durchschlagen. Beängstigend ist, dass sich die Situation immer mehr zuspitzt.
«Die sogenannten Migranten zahlen übrigens mehr in die Sozialwerke ein, als sie beziehen.»
Wie schätzen Sie die Situation der Migrantinnen und Migranten in Basel ein?
Welche Migranten meinen Sie? Jene, die bei Novartis und Roche arbeiten? Oder jene, die sich mit Strassenputzen über Wasser halten?
Letztere.
In den letzten Jahren sind vor allem hochqualifizierte Menschen in die Schweiz eingewandert. Rund 60 bis 70 Prozent davon stammen aus EU- oder Efta-Staaten – die sogenannten Migranten zahlen übrigens mehr in die Sozialwerke ein, als sie beziehen. Dann haben wir noch Asylsuchende, aber die machen nur 0,6 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus.
Das heisst also, dass die derzeitige Sozialhilfediskussion von falschen Annahmen ausgeht?
Tatsache ist: Armut kann viele treffen – unabhängig von der Nationalität. Gefährdet sind Menschen, die risikoreiche Jobs haben. Leute, die im Niedriglohnbereich arbeiten und schlechte Startchancen gehabt haben. Oder Menschen, die über 50 Jahre alt sind und ihre Stelle verlieren. Am meisten trifft Armut alleinerziehende Frauen. Wir haben in der Schweiz ein System, das nicht wirklich durchlässig ist und nicht allen dieselben Chancen bietet.
Seit dem 1. Januar 2008 gilt in der Schweiz das neue Asyl- und Ausländergesetz, in dem das aus Basel stammende Prinzip «Fordern und Fördern» auch auf nationaler Ebene gesetzlich verankert wurde. Funktioniert das Modell im Alltag?
Was man vor allem durchsetzen will, ist das «Fordern». Man vergisst hierzulande gerne, dass sich viele Ausländerinnen und Ausländer seit bald 100 Jahren sehr wohl und sogar erfolgreich selber integrierten – bevor überhaupt jemand das Wort «Integration» in den Mund genommen hat. 1924 zum Beispiel ist in Genf der erste italienische Verein, die Colonia Libera Italiana, entstanden. Mittlerweile gibt es landesweit etwa 140 solche Vereinigungen.
«Es ist eine Gehirnwäsche im Gang – auch wenn dies viele Leute nicht wahrhaben wollen.»
Warum ist denn diese Botschaft nie so richtig ins öffentliche Bewusstsein gelangt?
Weil niemand über Integrationserfolge sprechen will. Wer erwähnt zum Beispiel die von Italienern gegründete Stiftung ECAP, die seit 45 Jahren Erwachsenenbildung für Zugewanderte anbietet? ECAP wurde die ersten 15 Jahre ausschliesslich von Italien bezahlt, um den in der Schweiz ansässigen Landsleuten die Integration zu ermöglichen. Heute ist es eine unabhängige Stiftung nach Landesrecht.
Im Februar wurde die SVP-Masseneinwanderungsinitiative vom Volk angenommen, die Asylgesetzgebung wird zunehmend verschärft, und im November stimmen wir über die Ecopop-Vorlage ab, die die Zuwanderung nochmals massiv begrenzen will. Was geht Ihnen da als Tochter italienischer Migranten durch den Kopf?
Es macht mir Angst. Und ich habe Mühe, diese Vorgänge zu verstehen. Fakt ist doch: Jede dritte Ehe in der Schweiz ist binational, in den Städten sogar jede zweite. Es haben einige Leute für die Masseneinwanderungsinitiative gestimmt, die selber einen Migrationshintergrund, einen ausländischen Ehepartner oder zugewanderte Freunde haben. Ihr Votum richtet sich nicht gegen bekannte Personen, sondern gegen ein Phantom.
Worauf führen Sie das zurück?
Ich glaube, es wird politisch und medial ein Scheinproblem bewirtschaftet, das sich mit den Alltagserfahrungen vieler Menschen gar nicht deckt. Einzelfälle werden hochgekocht und verallgemeinert.
Sie sind SP-Mitglied. Warum schafft es Ihre Partei nicht, solchen ausländerfeindlichen Tendenzen mit guten Argumenten entgegenzutreten?
Weil es viel einfacher ist, zu polemisieren als differenziert zu diskutieren. Ich sage: Es ist eine Gehirnwäsche im Gang – auch wenn dies viele Leute nicht wahrhaben wollen. Wie wollen Sie da mit rationalen Argumenten vermitteln, dass die zugewanderten Ausländer und die 0,6 Prozent Asylsuchenden nicht wirklich das Problem sind?
«Früher fühlte ich mich dreifach benachteiligt: als Sizilianerin, als Frau, als Walliserin.»
Ihre Eltern sind sizilianische Einwanderer, Sie wuchsen im Wallis auf und leben heute in Basel: Fühlen Sie sich mehr als Italienerin oder mehr als Schweizerin?
Ich bin glücklicherweise beides. Aber früher fühlte ich mich manchmal dreifach benachteiligt: als Sizilianerin, als Frau, als Walliserin.
Als Walliserin?
(lacht) Die Walliser sind doch diejenigen, die immer betrunken sind. Und man versteht ihre Sprache nicht!
Sie machen nicht unbedingt den Eindruck, besonders unter Ihrem Schicksal zu leiden …
Die Opferrolle ist unattraktiv. Ich habe mich durchgekämpft. Glauben Sie mir: Damals, in den 1970er-Jahren, war ich ein «Tschingg», im Kindergarten und später in der Schule.
Und wie hat sich das geäussert?
Bei ganz Banalem. Zum Beispiel in der Handarbeit, wenn wir als Hausaufgabe etwas stricken mussten. Natürlich haben die Mütter uns Mädchen jeweils geholfen. Dummerweise aber stricken Italienerinnen anders als Schweizerinnen. Das hat meine Lehrerin natürlich sofort bemerkt und meine Strickarbeit aufgerissen. Für ein Kind sind das unverständliche Hürden.
Sie sind dreifache Mutter, politisch aktiv, engagieren sich nebst Ihrer Arbeit bei «Surprise» auch im Vorstand des internationalen Strassenmagazin-Verbands International Network of Street Newspapers und beim Basler Italienerverein Colonia Libera Italiana – wie bekommen Sie das alles unter einen Hut?
(lacht) Wie jeder andere Geschäftsmann auch!
Gut, aber in der Regel haben «Geschäftsmänner» heute nach wie vor Frauen im Rücken, die den Familienalltag managen…
In der heutigen Zeit können zwei Menschen das Ganze mit Teilzeitarbeit regeln. Und natürlich mit aufwendiger Organisation. Ausserdem hatten mein Partner und ich das Glück, dass es staatliche Tagesschulen gab, die uns ein gemeinsames Berufs- und ein Familienleben ermöglichten.
Bei «Surprise» arbeiten auffallend viele Frauen über 40 mit Kindern. Ist das ein Zufall oder bewusste Anstellungspolitik?
Ich habe diesen «Frauenladen» von meinem Vorgänger übernommen. Als Mann konnte er sich damit als Frauenförderer brüsten. Ich freue mich darüber. Aber selbstverständlich haben wir auch Männer in unserem Betrieb.
Neben ihrer Tätigkeit beim Verein Surprise ist sie auch Mitglied des Vorstands von International Network of Street Papers, einem Netzwerk von 112 Strassenzeitungen aus 40 Ländern. Paola Gallo ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.