Während vergangenen Mittwoch in Kairo ein Blutbad geschah, sassen die Touristen in den ägyptischen Feriendestinationen unbehelligt in ihren Hotels – und bekamen kaum etwas mit. Auch unser Autor, der im Taucherdorf Dahab in den Ferien weilte.
Es ist eine unwirkliche Stille, die kurz einkehrt, als ich den Rezeptionisten frage, ob wir nun nicht mehr auf die Strasse dürfen. Es ist der Mittwochabend nach dem Ende des Festes des Fastenbrechens, der Tag an dem das ägyptische Militär zwei der Camps der protestierenden Muslim-Brüder in Kairo geräumt hat. Hunderte von Menschen sind dabei umgekommen. Die Übergangsregierung hat den Ausnamezustand ausgerufen und eine Ausgangssperre ab 19 Uhr verhängt. Auch über Touristenprovinzen wie den Süd-Sinai. Eine ungewöhnliche Situation.
Es ist 18:30 Uhr und in Dahab starren alle Einheimischen auf den Fernseher. Der Rezeptionist blickt vom Bildschirm zu mir, als hätte er mich nicht richtig verstanden, dann wieder auf den Bildschirm, dann nach draussen, wo die gleichen zwei Holländerfamilien wie in den vergangenen Wochen am Pool herumliegen und Kette rauchen und Bier trinken. Business as usual. «Go outside! No problem!» meint er plötzlich, als sei er schon fast ein wenig beleidigt ob der Frage, und wedelt mich nach draussen. Als ob es völlig klar wäre, dass das, was in Kairo geschehe, uns gar nicht betreffe. Uns nichts angehe. Weil für uns, die Touristen, andere Regeln gelten. Insbesondere auf der Sinai-Habinsel.
Warum Ausgangssperre, wenn man das Hotel nicht verlässt?
Sharm-El Seikh ist dafür das Paradebeispiel, Badeferienadresse Nummer 1 in Ägypten, eine hermetisch abgeschlossene Glaskuppel. Nur dass es nicht zu schneien beginnt, wenn jemand daran schüttelt. Die Hotelgäste hängen in ihren All-Inclusive Hotels herum, kämpfen nach dem Frühstück um die Liegestühle am Pool oder am hauseigenen Korallenriff. Sie braten in der Äquatorialsonne bis zum Hautkrebs und schlürfen ihr Bier und ihre Cuba Libres, Ramadan hin oder her. Ferien aus dem Hochglanzprospekt, ohne mit der lokalen Kultur auch nur irgendwie in Berührung zu kommen.
Das Hotel verlassen diese Touristen höchstens zwischendurch mal für einen kurzen Abstecher in die groteske Karikatur eines ägyptische Bazars im Zentrum dieser Nicht-Stadt oder für eine halbtägige Kamelsafari. Im besten Fall einen Tagesausflug nach St.Catherine. Kirchen anschauen, damit man auch noch ein bisschen Kultur gemacht hat, wie in «richtigen» Ferien. Da bekommt man von der Welt da draussen nichts mit. Nicht einmal, wenn ein französisches Passagierflugzeug über Nacht praktisch ins Hausriff abstürzt und 148 Menschen vor der Haustür umkommen. Das habe ich 2004 erlebt. Und schon gar nicht, wenn ein paar hundert Kilometer entfernt auf Demonstranten (Richtung Westen) oder Polizeiposten (Richtung Norden) geschossen wird. Und wie soll einen auch die Ausgangssperre betreffen, wenn man das Hotel nicht verlässt?
«No police, see?»
Dahab – dort wo ich gerade meine jährlichen Tauchferien verbringe – ist anders. Genug anders zumindest, um mir das Gefühl zu geben, etwas näher am «richtigen» Ägypten zu sein. Eine Kleinstadt mit 5000 Menschen. Die im Unterschied zu Sharm einen Stadtkern hat, wo man zu Fuss hinspazieren kann und nicht mit dem Hotelshuttle überall hingekarrt werden muss. Mit einer Küstenpromenade mit Restaurants und Clubs und Tauchschulen. Mit kleinen Supermärkten, welche bis weit in die Nacht geöffnet sind. Auch an diesem Mittwochabend, soweit ich das beurteilen kann. Ich gehe zum Supermarkt gegenüber meines Hotels, um mir Zigaretten zu kaufen. Der Verkäufer starrt ebenso teilnahmslos in den Fernseher wie der Rezeptionist vorhin. «Trouble?», frage ich. Für eine detailliertere Frage ist die Sprachbarriere zwische uns zu hoch. Er zuckt mit den Schultern. «In Kairo», sagt er: «no trouble for you.» Er zeigt auf die Strasse. «No police, see?»
Ein Freund hat mir einmal in Kairo gesagt, dass es ein Missverständnis sei, wenn man von Äypten als muslimisches Land spreche. Es gäbe eine Religion, die viel wichtiger sei, und das sei der Tourismus. Das war 2005, nachdem Bomben in Sharm und Tabah und in Kairo hochgegangen waren und ich für ein paar Monate in der Nilmetropole lebte. Es waren dies die ersten Anschläge seit dem «Massakker von Luxor» 1997, bei dem unter anderem 36 SchweizerInnen erschossen wurden. Für meinen Freund war völlig klar, dass die Anschläge von ausländischen Terrorist verübt worden sein mussten. «Wir Ägypter wissen, dass wir ohne den Tourismus nicht überleben können. Und Bomben kosten Geld. Das brauchen wir für unsere Ehefrauen, nicht für den Waffenhändler.» Er lachte laut.
Ein Freund hat mir gesagt, dass es in Äypten es eine Religion gibt, die viel wichtiger sei als der Islam – den Tourismus.
Acht Jahre später glaube ich ihm noch aufs Wort. Ich mache Ferien – zusammen mit mehr als 300 anderen Schweizerinnen und Schweizern – in einem Land während eines Militärputschs. Und das scheint niemand wirklich ein Problem zu finden – weder das EDA, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine Reisewarnung ausgesprochen hatte, noch die Reiseveranstalter. Und dies, obwohl schon klar ist, dass heute mehrere hundert Menschen in Kairo ihr Leben verloren haben. Die Reisewarnung wird erst zwei Tage später kommen und die Reiseveranstalter werden alle Buchungen annulieren. Und sogar dann werden die Touristen, die schon vor Ort sind nicht nach Hause geholt. Warum auch?
Ausser in Luxor gab es kaum je Opfer unter den Touristen – wenn es jemanden erwischt, dann die Ägypter, die an diesen Orten wohnen und arbeiten. Wir sind sicher hier. Die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Hotelanlagen auf dem Sinai im Besitz von Militärfunktionären ist, mag verstörend wirken. Aber für jemanden, der das Land ein bisschen kennt, ist sie auch ein Garant dafür, dass man hier sicher ist.
Das Elend fängt erst bei der Rückkehr an
Auch am nächsten Tag, auf dem Weg zum Flughafen von Sharm El-Sheikh und dann nach Zürich erlebe ich kaum Anzeichen dafür, dass irgendetwas aussergewöhnlich sein soll. Zwar stehen an den Security Checkpoints Soldaten statt nur die üblichen Polizisten und ich sehe einen Schützenpanzer oder zwei, aber von erhöhter Kontrolle ist gerade am Flughafen nichts zu spüren. Ausser vielleicht, dass man mir mein zweites Feuerzeug abnimmt. Von den Touristen, mit denen ich spreche, hat kaum jemand mitbekommen, dass überhaupt eine Ausgangssperre gegolten haben soll. Die lagen wohl alle am Pool.
Umso mehr überrascht es mich, als ich zuhause angekommen am Flughafen Zürich das Titelbild des Abendboulevardblattes lese: «Ägypten im Elend.» Das Titelbild besteht aus zwei Photos vom Naama Center in Sharm, einmal im September 2011, vollgepackt mit Menschen, und gestern Abend, menschenleer. Quatsch, denke ich mir, und vermute schon eine Bildmanipulation wie damals, als der «Blick» auf einem Bild von Luxor eine Wasserlache rot eingefärbt hatte. Doch wie sich herausstellt, war ich es, der falsch lag. Ich ging der Illusion aus dem Prospekt noch mehr auf den Leim als die Glaskuppeltouristen. Soviel zu meinem «richtigen» Ägypten.