Ende Juni hatte das Solothurner Kantonsparlament über ein Projekt zu entscheiden, das den Gemeinden die Autonomie geben wollte, Ausländern mit Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren. Im Solothurner Fall wäre es um 16 Prozent der Wohnbevölkerung gegangen.
Dieses Ansinnen hatte wie schon ähnliche Vorstösse 1997 und 2005 keine Chance: Die Regierung war zwar dafür, eine hauptsächlich von SVP und FDP getragene Mehrheit von 55:39 war aber dagegen.
Als nächstes wird sich das Baselbiet mit einer ähnlichen Vorlage beschäftigen müssen. Dort ist eine Initiative von Juso und dem Jungen Grünen Bündnis zur Einführung des Stimmrechts für Ausländerinnen und Ausländern hängig.
Dann lasst euch halt einbürgern!
«Könnten Ausländer das Milizsystem retten?» Diese Schlagzeile der AZ-Medien vom 17. Mai 2017 könnte den Nein-Sagern ein Licht aufstecken. Da wurde nämlich darauf hingewiesen, dass viele Gemeinden Mühe haben, genügend Personal für ihre Behörden zu finden. Baukommissionen, Sozialbehörden und Gemeinderäte würden seit Langem mit Rekrutierungsproblemen kämpfen. Daher rührt das wachsende Interesse am Einbezug von Nichtschweizern in die schweizerische Gemeindearbeit, also an kommunalpolitischen «Fremdarbeitern».
Wer das nicht zulassen will, versteht das nicht als Ausdruck seiner Fremdenskepsis (um nicht Fremdenfeindlichkeit zu sagen), sondern verweist – allerdings ohne entsprechende Ermunterung – auf den ordentlichen Weg der Einbürgerung, die von den gleichen Kräften dann unnötig erschwert wird.
Es lässt sich belegen, dass Ausländerbeiräte (etwa in der Stadt Zürich) und ähnliche Gremien eine hohe Fluktuation haben, weil sich da vor allem Nichtschweizer engagieren, die schon bald infolge von Einbürgerung Schweizer werden und darum nicht mehr als politisch aktive Ausländer mitgezählt werden können.
Wer Steuern zahlt, soll mitbestimmen können
Bekanntlich leben über 800’000 Menschen in der Schweiz, welche die Voraussetzungen des Bundes für eine Einbürgerung (mindestens zwölf Jahre Wohnsitz) erfüllen, sich aber nicht einbürgern lassen. Daraus könnte man schliessen, dass das Interesse an politischer Partizipation gering ist und die Vorenthaltung politischer Rechte nicht wirklich weh tut. Das darf aber nicht die Schlussfolgerung sein.
Erstens gibt es auch unter den alteingesessenen Schweizern und Schweizerinnen solche, die sich nicht für aktive Mitwirkung in der Politik (und seis bloss übers Abstimmen) interessieren. Und zweitens sollte man das seit der Amerikanischen Revolution geltende Prinzip ernster nehmen, dass Steuerzahlende auch bei der Steuerverwendung ein Mitspracherecht haben sollten («No taxation without representation»).
Das passive Wahlrecht für Ausländer würde eine breitere Auswahl bei der Besetzung politischer Ämter ermöglichen.
Nun mehren sich auch in der Schweiz «gut bürgerliche» Stimmen, die dieses Postulat, das von der Linken seit Jahrzehnten immer wieder vorgebracht wird, ebenfalls befürworten. Bereits 2015 hat sich die der Wirtschaft nahestehende Denkfabrik «Avenir Suisse» für das kommunale Ausländerstimmrecht starkgemacht.
Ihr damaliger Direktor, Gerhard Schwarz, einst Chef der NZZ-Wirtschaftsredaktion, erinnerte daran, dass es da auch um Leute gehe, die dieses Land oft mehr mitgestalten würden als so manche Staatsbürger: «Menschen, die mit ihren unternehmerischen Entscheiden, etwa für die Schaffung oder die Aufhebung von Arbeitsplätzen, ganze Regionen massiv beeinflussen können, dürfen nicht einmal mitentscheiden, ob nun in ihrer Gemeinde eine Umfahrungsstrasse gebaut oder das Schulhaus erweitert werden soll.»
Mehr Mitsprache zur Wohlstandssicherung
Die jüngste Stimme dieser Art ist diejenige von Walter B. Kielholz, studierter Betriebswirtschaftler, ein Wirtschaftsfreisinniger nach traditionellem Muster, Versicherungs- und Bankmanager, ehemaliger Verwaltungsratspräsident der CS, seit 2009 Verwaltungsratspräsident von Swiss Re und in zahlreichen internationalen Institutionen tätig.
Kielholz macht sich in einer soeben erschienenen Schrift Sorgen wegen der zunehmend ungünstiger werdenden Zusammensetzung des Korpus der Stimmberechtigten. Ungünstiger werde diese, weil die über 65-Jährigen überhandnehmen (Stichwort: Gerontokratie) und weil damit die Zahl der am Wirtschaftsleben aktiv Teilhabenden stets abnimmt. Die Schweiz werde zu einer Transferempfängergesellschaft. Das sei ein langfristiges Problem für den Wirtschaftserfolg und gefährde den Wohlstand.
Sein Vorschlag: Man könne dem gegensteuern mit der Einführung eines Familienwahlrechts, mit dem weiteren Ausbau des kommunalen Ausländerstimmrechts und mit der Vereinfachung des Einbürgerungswesens. 76 Prozent der in der Schweiz lebenden Ausländer seien erwerbstätig, was deutlich über den 63 Prozent der Schweizer liege. Die Einführung eines Wahlrechts ab 18 Jahren für Ausländer würde das Elektorat um 24 Prozent erhöhen.
Der Wirtschaftsmann sieht in dieser Möglichkeit, die in den Ohren von Rechtsnationalen eine Horrorvision ist, eine wünschbare politische Vitalisierung, vielleicht sogar eine Notwendigkeit. Was man nicht auf Anhieb erkennt: Die Besserstellung der Ausländer durch die Einführung des passiven Wahlrechts brächte auch den Inländern Vorteile: Diese hätten nämlich eine breitere Auswahl in der Besetzung der politischen Ämter.
Die Romandie ist offener
Die meisten wissen gar nicht, wie weit das kommunale Stimmrecht für Ausländer bereits gediehen ist und – ja und! – mit Erfolg bereits praktiziert wird. Dieses ist in etwa einem Viertel der Gemeinden (rund 600 von rund 2300) in Kraft. Was auffällt: 575 der 600 Gemeinden liegen in der französischen Schweiz. Einmal mehr sieht man, dass die Romands gegenüber angeblich oder tatsächlich anderen Mitbewohnern offener sind.
Allerdings zeigte auch der dem konservativen Teil der Schweiz zugezählte Kanton Appenzell Ausserrhoden Reformbereitschaft. 1995 gab er den Gemeinden das Recht zu dieser Verbesserung. Und vier Gemeinden machten inzwischen davon Gebrauch. Warum war das möglich?
Weil die Appenzeller in Wald im Ausländer den Nachbar erkannten, gewährten sie ihm politische Mitsprache.
Zwei Voraussetzungen scheinen da geholfen zu haben: Erstens die kleine Zahl der Ausländer, die in die «Gunst» der Reform kamen, und zweitens die direkte Bekanntschaft derjenigen, denen man das neue Recht gewährte.
Da ging es nicht mehr um die abstrakte Grösse «Ausländer», vor der man sich fürchten und die man sogar dämonisieren konnte; da ging es um einen Nachbarn (aus Fleisch und Blut), den man kannte. Vor allem wenn diese Menschen aus Holland, Deutschland oder aus Australien stammten, unterschieden sich diese kaum von ebenfalls ins Appenzellische zugewanderten Zürchern.
1999 machte Wald (AR) als erste Deutschschweizer Gemeinde Gebrauch von der Möglichkeit, Ausländer auf Gemeindeebene mitbestimmen zu lassen.
Und wenn die dann Linke wählen?
Wenn die nationale Rechte gegen die Besserstellung der Ausländer ist, macht dies Sinn, wenn man annimmt, dass Ausländer die Linke stärken würden. Dies würde wiederum Sinn machen, weil diese das Stimmrecht der Reformbereitschaft der Linken verdanken würden. Dankbarkeit gibt es aber keine in diesem Bereich.
Die Frauen verdanken das ihnen lange vorenthaltene Stimmrecht ebenfalls dem Engagement der Linken, ohne dass diese deswegen honoriert worden wäre. Aber gerade im Falle des Frauenstimmrechts zeigte sich, dass das Stimmrecht, das eigentlich grundsätzlich hätte behandelt werden sollen, stark von der Überlegung überschattet war, wem dies Vor- und Nachteile bringe.
Es gibt wissenschaftliche Analysen zu den Parteipräferenzen der schweizerischen Nichtschweizer. Diese dürften sich vor allem an gesamtschweizerischen Verhältnissen orientieren. Auf der kommunalen Ebene mit ihren örtlichen Sachgeschäften würden Parteiunterscheidungen eine geringere Rolle spielen.
Es bleibt hier kein Raum, auf alle Ergebnisse hinzuweisen. Nur eine Bestätigung: Die SVP erhielt bei einem (früheren) Wähleranteil von 26,6 Prozent nur 14,4 Prozent der Ausländerstimmen. Allerdings könnte sie unter Ausländern mittel- und osteuropäischer Herkunft beachtliche Stimmenanteile erzielen.
Progressive voran!
Basel-Stadt, der Stadtkanton, in dem es leichter ist oder wäre, fortschrittliche Lösungen durchzubringen, hat 2010 einen Vorschlag, der zehn Jahre Wohnsitz in der Schweiz vorsah und nur aktives Wahlrecht gewähren wollte, mit 61 Prozent abgelehnt. Dabei haben sich weniger als die Hälfte der in Basel lebenden Schweizer (49,4 Prozent) an diesem Wahlgang beteiligt!
Bei der Totalrevision der Kantonsverfassung von 2005 ist wegen der Mutlosigkeit der CVP die Chance für die Einführung des Ausländerstimmrechts verpasst worden. Man wollte mit einer solchen Minireform nicht das ganze Projekt der Verfassungsrevision gefährden. Dabei hatte die Appenzeller Reform von 1995 gezeigt, dass gerade Totalrevisionen Gelegenheit bieten, eine solche Teilrevision mitzunehmen.
Eine Stärke des ansonsten in mancher Hinsicht fragwürdigen Föderalismus würde darin liegen, dass in einzelnen Teilen der Schweiz quasi als Experiment Reformen gewagt werden können. Schön wäre, wenn andere Teile dann auch hinschauen würden und feststellen könnten, dass sich solche Verbesserungen bewähren.