Streit um eine Utopie

Die Initative für ein bedingungsloses Grundeinkommen spaltet die Linke. Mit dem ehemaligen Bundesratssprecher Oswald Sigg und Gewerkschafter Corrado Pardini diskutieren zwei eingefleischte SP’ler über Sinn und Unsinn der Idee. 

Streitgespraech zwischen Oswald Sigg und Corrado Pardini am 9.10.2012 im Kaefigturm Bern. © Marco Zanoni (Bild: Marco Zanoni)

Die Initative für ein bedingungsloses Grundeinkommen spaltet die Linke. Mit dem ehemaligen Bundesratssprecher Oswald Sigg und Gewerkschafter Corrado Pardini diskutieren zwei eingefleischte SP’ler über Sinn und Unsinn der Idee. 

Die Idee eines Grundeinkommens müsste jedem Linken das Herz aufgehen lassen. Jeder in der Schweiz Niedergelassene erhält 2500 Franken bar auf die Hand, unabhängig davon, ob er am Fliessband steht, Finanzanlagen verkauft, die Flussauen vom Müll befreit oder auch nur den ganzen Tag auf der Wiese liegt und die Flugzeuge am Himmel zählt. Er müsste nie mehr einen Job annehmen, der ihm zuwider ist oder der nicht genügend Geld bringt für ein angenehmes Leben. Er könnte unbekümmert seiner Berufung nachgehen.

Die Idee dazu ist alt, doch erstmals rückt sie in die Nähe der Machbarkeit. In einer Volksinitiative werden derzeit in der ganzen Schweiz Unterschriften für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens gesammelt. Rund 35 000 Schweizer haben sich bislang auf den Sammelbögen eingetragen, doch damit es zur Abstimmung kommt, werden 100 000 beglaubigte Unterschriften benötigt.

Initianten sind auf sich gestellt

Die Probleme bei der Unterschriftensammlung hängen mit dem Initiativkomitee zusammen, das vom Basler Daniel Häni angeführt wird, der das Unternehmen Mitte betreibt. Die Initianten sind auf sich allein gestellt, keine Partei hilft mit, auch nicht die SP, die eigentlich an einer Neuverhandlung der gesellschaftlichen Spielregeln interessiert sein müsste.

Gerade das bezweifelt Gewerkschaftsführer Corrado Pardini, einer der klügsten Köpfe der Schweizer Linken: «Mit dem Grundeinkommen werden die bestehenden Verhältnisse zementiert.» Wir haben Pardini zum Gespräch mit Oswald Sigg gebeten, der für das Grundeinkommen wirbt. SP-Mitglied Sigg war lange Jahre Sprecher mehrerer Bundesräte.
Die Debatte schneidet nur am Rande die Schwierigkeiten der Umsetzung an, etwa was die Finanzierung betrifft. Sigg und Pardini stossen zum Kern vor: Was würde sich ändern mit dem Grundeinkommen?

Wäre Ihre berufliche Laufbahn anders verlaufen, wenn Sie in den Genuss des bedingungslosen Grundeinkommens gekommen wären, Herr Sigg?

Oswald Sigg: Wahrscheinlich nicht. Ich konnte sowohl meine Ausbildung als auch meine Berufswahl so treffen, wie ich es wünschte. Insofern war ich immer etwas privilegiert.

Möchten Sie mit Ihrem Engagement für das Grundeinkommen diese privilegierte Situation allen Leuten ermöglichen?

Sigg: Nein, das ist nicht die wichtigste Motivation. Mein Ansatz ist ein sozialpolitischer. In Artikel 1 der allgemeinen Menschenrechte steht: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.» Man muss einfach feststellen, dass dies in der Realität nicht der Fall ist. Die Menschen werden ungleich geboren, viele sind in der Würde und an Rechten verletzt. Es gibt zu viele Menschen, die in Armut geboren werden und in Armut sterben. Ich finde, man sollte wenigstens allen Menschen die gleichen ökonomischen Voraussetzungen geben.

Damit müsste Ihnen Herr Sigg eigentlich aus dem Herzen sprechen, Herr Pardini.

Corrado Pardini: In der Grundanalyse stimme ich dem absolut zu. Die Frage ist nur, ob man mit einem bedingungslosen Grundeinkommen gleichere und gerechtere Bedingungen schaffen kann. Wichtiger ist das Recht auf Arbeit, das für mich zentral ist. Arbeit bringt die Integration in die ­Gesellschaft, ­Arbeit bedeutet auch, Selbstachtung entwickeln zu können. Man kann die Würde des Menschen nicht auf ein garantiertes Einkommen reduzieren.

Kann man nicht jedem Einzelnen das Urteil überlassen, ob es mit seiner Würde vereinbar sei, zu arbeiten oder eben nicht?

Pardini: Ich glaube, dass man mit der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens ­akzeptieren würde, dass ein Teil der Gesellschaft abgekoppelt wird von diesem Recht auf Arbeit. Man hat das bei der Einführung von Hartz IV in Deutschland, das im weitesten Sinn eine Art Grundeinkommen darstellt, beobachten können. Hartz-IV-Empfänger werden von der Gesellschaft abgeschrieben. Man befreit diese Leute nicht, man emanzipiert sie nicht. Im Gegensatz zu Hartz-IV-Einkommen ist die Arbeitslosenversicherung kein Instrument, das Betroffene abweist, sondern das Signal, dass der Mensch ein Recht auf Arbeit hat.

Sigg: Eigentlich dient dir als Gewerkschafter der Kapitalismus dazu, gegen das Grundeinkommen zu argumentieren. Das ist doch absurd, dass ausgerechnet du die ungerecht verteilte und ungerecht entlöhnte Arbeit, die der Kapitalismus produziert, zum Mass aller Dinge machst. Denk daran: Die Gewerkschaften haben 1880 erstmals ein Grundeinkommen gefordert – nämlich die Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Es ging dann aber über 60 Jahre, bis die AHV tatsächlich eingeführt werden konnte.

Pardini: Das kann ich so nicht stehen lassen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob das bedingungslose Grundeinkommen im kapitalistischen System überhaupt eingeführt werden kann.

Herr Sigg, Sie bezeichnen die AHV als Grundeinkommen für die über 65-Jährigen?

Sigg: Ja. Aber ich will damit vor allem sagen, dass es sehr viel Zeit braucht, bis solche Ideen umgesetzt sind. Das verträgt sich schlecht mit der realen Politik. Politiker beschäftigen sich ausschliesslich mit aktuellen Problemen. Unsere Sozialversicherungen brauchten alle ihre Zeit, bis sie eingerichtet waren. Mittlerweile haben wir ein sehr gut ausgebautes System, aber es ist auch stark bürokratisiert. Experten verschiedenster politischer Couleur sagen, dass man das ganze verwachsene Sozialversicherungssystem total sanieren müsste. Und da käme man auch ohne unsere Initiative schnell zur Idee eines generellen Grundeinkommens, weil der Nachweis der Bedürftigkeit wegfallen würde. In der Sozialpolitik ist es doch so, dass man die Leistungsbezüger verachtet, weil viele Leute das Gefühl haben, die würden einem auf der Tasche liegen.

Mit anderen Worten: Das Grundeinkommen könnte die Sozialversicherungen ablösen. Was spricht denn dagegen?

Pardini: Nehmen wir die AHV: Sie soll die Zeit nach dem Erwerbsleben finanzieren. Sie basiert grundsätzlich auf dem Erwerbsleben. Zusammen mit der Rente soll sie den Pensionierten 60 bis 70 Prozent des bisherigen Einkommens sichern. Beim Grundeinkommen wird die Erwerbstätigkeit abgekoppelt. Verschiedene Länder haben es faktisch ja schon eingeführt. Deutschland mit Hartz IV. Und Frankreich mit dem «Smic», dem garantierten Grundlohn, der für alle Berufe gilt …

Sigg: Halt, du sagst selbst, der Grundlohn sei ein Lohn. Wir sprechen aber übers Grundeinkommen. Mit Hartz IV und «Smic» hat das nichts zu tun.

Pardini: Ja, natürlich, aber sozialpolitisch gesehen ist das Grundeinkommen nicht so weit weg vom «Smic». Beim einen ist die Erwerbstätigkeit nicht vorausgesetzt, beim anderen schon. Gemeinsam aber ist beiden Modellen, dass der Ansatz sehr tief ist. Auch ihr schlagt mit allenfalls 2500 Franken einen so tiefen Betrag vor, der ein würdiges Leben nicht garantiert. Dieser Betrag dürfte – wenn es denn tatsächlich zur Einführung des Grundeinkommens käme – in der politischen Debatte eher noch gedrückt werden.

An Arbeit fehlt es in unserer Gesellschaft nicht. Das Problem ist doch eher, dass Arbeit ungerecht verteilt und ungerecht entlöhnt ist. Könnte hier die Einführung eines Grundeinkommens etwas ändern?

Pardini: Wir müssen dafür kämpfen, dass Erwerbsarbeit neu definiert wird, dass heute unbezahlte Arbeit wie Kinder- oder Altenbetreuung entschädigt wird.

Sigg: Genau, genau.

Pardini: Was «genau»? Das ist aber ein anderer Diskurs als der übers bedingungslose Grundeinkommen. Ich bin bei dir, wenn man darüber diskutiert, wie Kindererziehung oder Betagtenpflege neu definiert werden.

Sigg: Seit 150 Jahren fordert man ein Recht auf Arbeit. Dieses Recht auf Arbeit kann im Ernst gar nicht mehr verwirklicht werden – europaweit haben wir 25 Millionen Arbeitslose. Die sind aber nicht einfach arbeitslos. Sie haben einfach keine Lohnarbeit. Die Unterscheidung zwischen Arbeit – nämlich freiwilliger Arbeit – und Lohnarbeit – also Erwerbsarbeit – müssen wir überwinden. Heute werden in unserer Gesellschaft 50 Prozent der Arbeitsstunden gar nicht entlöhnt. Wie will man jetzt diese Hälfte der Arbeitsstunden bezahlen, wenn nicht mit einem Grundeinkommen?

Pardini: Nicht, indem man ein bedingungsloses Grundeinkommen einführt, sondern indem man bestimmt, wie bisher unbezahlte Arbeiten entschädigt werden. Beispiel Kindererziehung: Wir müssten einen bezahlten zweijährigen Kinderurlaub und später eine umfassende Kinderbetreuung einführen. Solche Modelle muss man entwickeln. Das Gleiche gilt bei der Altenbetreuung. Diese Arbeit muss aufgewertet, nicht abgekoppelt werden. Das ist mein ursozialer Gedanke: Die Gesellschaft muss alle bis hin zum schwächsten Glied integrieren.

Sigg: Das Auslagern von Menschen geschieht bei uns durch das Sozialversicherungssystem. Letzthin wurde bekannt, dass 50 Prozent der Leute, die Anspruch auf staatliche Unterstützung hätten, diese gar nicht abholen. Warum verzichten diese Leute, warum gehen sie nicht aufs Sozialamt? Ich habe mit Betroffenen gesprochen. Sie wollen sich nicht von den Behörden auf unwürdige Weise behandeln und dauernd kontrollieren lassen. Es ist etwas vom Unwürdigsten, sich vor den Behörden nackt präsentieren zu müssen. Um diese Leute foutiert sich die Politik. Das ist eine unerträgliche Situation. Darum muss man ein Grundeinkommen einführen, das jedem Menschen die gleichen Startbedingungen sichert.

Pardini: Das funktioniert doch nicht, Oswald. Du und ich sind unterschiedlich sozialisiert worden. Ein Grundeinkommen hätte daran nichts geändert. Gute Startmöglichkeiten für möglichst alle bietet man über Bildungschancen, über freien Zugang zu Schulen, zu Weiterbildungsmöglichkeiten. Integration wird ermöglicht durch die Achtung der Arbeit, auch jener einer Hilfskraft, und über die Entlöhnung gewisser Jobs.

Sigg: Bist denn du der Meinung, heute hätten alle die gleichen Bildungschancen?

Pardini: Nein, sicher nicht. Aber man erhöht sie nicht, indem man jenen, die heute schon Schwierigkeiten haben, Zugang zu Bildungsinstituten zu erhalten, ein Grundeinkommen gibt.

Sigg: Warum denn nicht?

Pardini: Das Grundeinkommen stabilisiert das System. Man stellt die Bezüger kalt. Die sozialen Unterschiede, die wir mit aller Kraft bekämpfen, bleiben bestehen. Wenn man die Hilfsarbeiterlöhne so entwickeln kann, dass sie ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, erreicht man mehr.

Warum soll das Grundeinkommen bei der Integration in die Gesellschaft helfen?

Sigg: Es stellt die ökonomische Voraussetzung dar für eine funktionierende Gesellschaft. Dank dem Grundeinkommen kann jeder eine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit ausüben. Der grosse Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du sagst, der Mensch ist nur so lange integriert, wie er auch tatsächlich Arbeit hat. Jene, die keine Erwerbsarbeit haben, werden von dir marginalisiert …
Pardini: … das ist nicht mein Konzept, so ist der Zustand in der Gesellschaft.

Sigg: In diesem Bild stehen alle, die AHV erhalten, ausserhalb der Gesellschaft. Das stimmt doch nicht.

Pardini: Das ist doch genau dein Bild! Vielleicht befindest du dich jetzt in dem Stadium, in dem du dich marginalisiert fühlst. Die AHV basiert auf ­einem Erwerb, also darauf, dass du an einem gewissen Punkt deine Leistung erbracht hast. Mein Problem sind die Jungen. Wenn du denen keine berufliche Perspektive gibst, schreibst du sie ab. Der Mensch definiert sich in unserer Gesellschaft nun mal über die Tätigkeit, die er verrichtet.

Sigg: Du gehst davon aus, dass mit dem Grundeinkommen bei den Jungen die Faulheit beginnt.

Pardini: Nicht Faulheit! Du legst mir Worte in den Mund, die ich nicht gesagt habe.

Wir haben im Gästebuch auf grundeinkommen.ch nachgeschaut, was die Leute mit ihren 2500 Franken Grundeinkommen anstellen würden. Ein grosser Teil würde kündigen oder deutlich weniger arbeiten und dafür Bildhauer werden oder Musiker. Viele würden sich aus dem Erwerbsleben zurückziehen.

Sigg: Sie würden sich vom Prozess der Lohnarbeit verabschieden und etwas anderes machen, was bislang freiwillige Arbeit war: Hausarbeit, kulturelle Arbeit. Das ist kein Rückzug. Das ist wahrscheinlich sogar integrativer als irgendeine – entschuldigen Sie den Ausdruck – Drecksarbeit für einen geringen Lohn zu machen.

Pardini: Das ist doch Wahnsinn, von Drecksarbeit zu sprechen! Wo bleibt da der Respekt? Ich kämpfe für eine Gesellschaft, die dieses Vokabular nicht mehr verwendet. Ich kämpfe für eine Gesellschaft, in der jede Arbeit Achtung erfährt. Irgendjemand muss sie machen, aber nicht für 2500 Franken, sondern vielleicht für 4500 Franken.

Gibt es gute Arbeit, gibt es schlechte Arbeit?

Pardini: Es gibt schlecht bezahlte Arbeit. Die sogenannte «Drecksarbeit» verschwindet auch mit dem Grundeinkommen nicht einfach. Wir müssen diese Tätigkeiten aufwerten mit mehr Lohn. Dann erfährt sie auch die Würdigung, die sie verdient. In unserer Gesellschaft hängt die Wertschätzung einer Arbeit direkt mit dem Lohn zusammen.

Sigg: Ich bin total dagegen, dass man den Wert der Arbeit über den Lohn definiert.

Pardini: Es ist nun mal so.

Sigg: Wenn alle einen Teil ihres Einkommens bedingungslos erhalten, hat ein Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt eine ganz andere Position. Dann würde die heutige «Drecksarbeit» für viel höhere Löhne gemacht.

Pardini: Das ist Kaffeesatzleserei.

Viele Fragezeichen gibt es bei der Umsetzung der Initiative. Wie die Finanzierung erfolgen soll, ist unklar.

Sigg: Die Finanzierung spielt heute noch keine Rolle. Wir haben im Initiativkomitee keine Einigung darüber erzielt. Wir möchten wichtige Grundfragen dem Gesetzgeber überlassen. Ich bin gegen eine Finanzierung über die Mehrwertsteuer, andere sind dafür. Es sollte wenigstens zu einem Teil über eine Reichtumssteuer oder eine Kapitaltransaktionssteuer finanziert werden, damit man auch eine Umverteilung erzielen kann.

Pardini: Damit bin ich einverstanden, wir müssen eine Transaktionssteuer erheben, um die unbezahlte Arbeit zu entlöhnen. Aber das ist für mich nicht die wesentliche Auseinandersetzung. Man sollte die Initiative nicht aufgrund ihrer technischen Mängel bekämpfen, sondern wegen des falschen Modells, das dahintersteckt.

Alle in der Schweiz Niedergelassenen sollen das Grundeinkommen erhalten. Würde das wegen der Personenfreizügigkeit nicht einen gewaltigen Sog von EU-Bürgern auslösen, die in der Schweiz wohnen möchten?

Sigg: Das ist eine wichtige Frage bei der Umsetzung. Da geht es um die Bezugsberechtigung.

Pardini: Also willst du doch ein paar Bedingungen beim bedingungslosen Grundeinkommen.

Sigg: Es ist eine Frage, die wir jetzt nicht beantworten können. Wir planen die Einführung nicht für 2014, aber in 30 bis 50 Jahren. Dann befinden wir uns politisch und wirtschaftlich in einem ganz anderen Raum. Dann könnte das Grundeinkommen europäisch gelten.

Pardini: Dafür gibt es sicher grosse Chancen. Das kapitalistische System wartet nur darauf, dass wir einen Teil der Gesellschaft abkoppeln. Deutschland hat das schon geschafft mit Harz IV. In Frankreich, Italien und Spanien laufen die ­Debatten in eine ähnliche Richtung. Ich war dort, die Arbeitslosen werden abgeschrieben. Die ­grosse Gefahr beim Grundeinkommen ist eben, dass es nicht Oswald Sigg umsetzt.

Sie definieren die Würde des Menschen über die Arbeit?

Pardini: Ja, das ist ein ganz wichtiger Pfeiler unserer Kultur und Gesellschaft. Wir können unsere Kultur nicht über Bord werfen.

Sigg: Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Einkommen falsch verteilt ist, in der es 25 Millionen Arbeitslose gibt und gleichwohl viele Arbeitende viel zu viel arbeiten …

Pardini: … und zu wenig verdienen.

Sigg: Nein, sie verdienen nicht zu wenig, sie werden in ihrer Arbeit krank. Sie leiden unter Stress und wachsendem Druck. Die Situation wird sich verschlimmern, wir werden immer weniger Arbeit haben. Die Produktivitätsfortschritte sind so gross, auch dank der Gewerkschaften.

Pardini: Ja, weil wir zu schwach waren, das zu verhindern.

Sigg: In 20 Jahren wird man vielleicht noch 15 Stunden pro Woche Erwerbsarbeit haben.

Pardini: Die Frage ist, was ist Erwerbsarbeit? Die geht ja nicht aus. Das ist die spannende Diskussion, die wir führen müssen.

Sigg: Warum springen die Gewerkschaften dann nicht auf diese Idee auf?

Pardini: Ich helfe ja mit, eine Debatte in Gang zu bringen. Wir müssen die Erwerbsarbeit neu definieren, indem die unbezahlte Arbeit fair bezahlt wird.

Sigg: Aber du hast keine Rezepte, wie wir das erreichen können.

Pardini: Es geht nicht um Rezepte, es geht um einen Diskurs. Du kannst davon ausgehen, dass die Gewerkschaften diese Denkarbeit mitleisten.

Das Grundeinkommen erzielt in Internetumfragen mitunter Zweidrittelsmehrheiten. Offenbar setzen die Leute mehr Hoffnung auf dieses Modell als auf die klassischen Rezepte der Gewerkschaften.

Pardini: Man wird sehen, ob die Unterschriften zusammenkommen. Es gibt ein Bedürfnis nach Arbeit, nach Perspektiven, nach sozialer Integration. Gerade von denen, die nicht die Perspektiven wie du, Oswald, hatten. Diese Leute müssen ein Selbstwertgefühl erlangen. Wir können von utopischen Gesellschaften träumen, aber bis wir das System überwinden, leben wir in der Realität.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12

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