Sündenbock Europa

Eine Zeitlang richtete sich die Wut der Empörten vor allem gegen die EU. Nun dehnt sie sich auf die nationalen Regierungen aus, die als Reaktion auf Distanz zu «Brüssel» gehen. Konstruktiv ist das nicht.

epa05541932 Italian Prime Minister Matteo Renzi arrives at Bratislava castle during the Bratislava EU summit, an informal meeting of the 27 heads of state or government, in Bratislava, Slovakia, 16 September 2016. European Union leaders meet to discuss a new strategy and future of the European Union after the recent Brexit referendum in Britain. EPA/FILIP SINGER

(Bild: EPA/FILIP SINGER)

Eine Zeitlang richtete sich die Wut der Empörten vor allem gegen die EU. Nun dehnt sie sich auf die nationalen Regierungen aus, die als Reaktion auf Distanz zu «Brüssel» gehen. Konstruktiv ist das nicht.

Vor Wochenfrist versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Bratislava zu ihrem ersten Gipfel nach dem «Brexit». Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nutzte den Termin, um Innenpolitik zu machen: Er weigerte sich, mit Angela Merkel und François Hollande gemeinsam vor die Presse zu treten.

Doch weil das deutsch-französische Duo sehr oft solo auftritt, hätte man die Abwesenheit des Italieners wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Also musste Renzi selber dies per Twitter der Welt kundtun. 128 Zeichen in der Sprache Dantes: In der Hauptstadt der Slowakei sei zwar ein Schritt vorwärts gemacht worden, dies sei aber zu wenig – «troppo poco». Ohne Änderungen in der Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik würde Europa viel riskieren. Materiell hat der italienische Regierungschef sogar recht. Doch in der Form, die in der Politik doch stets mehr als die Hälfte ist?

Auch taktisch könnte diese Aktion wenigstens aus innenpolitischer Sicht richtig gewesen sein. Mit seiner Europakritik suchte der italienische Ministerpräsident die Nähe zu seiner Wählerschaft, deren Zustimmung er braucht, wenn in wenigen Wochen zu Hause über eine (das Verhältnis zur EU freilich nicht betreffende) Verfassungsänderung abgestimmt wird.

Noch vor wenigen Wochen liess sich Renzi sehr gerne mit dem Duo Merkel/Hollande ablichten.

Denn in Italien ist das vereinte Europa derzeit wenig wohlgelitten: Die EU weist eine Zustimmungsrate von bloss 33 Prozent gegen 45 Ablehnungsprozente auf. Noch vor einem halben Jahre lag die Zustimmung bei 55 Prozent. EU-Freundlichkeit würde unter diesen Umständen die Popularität nicht steigern.

Ob solche Auftritte oder Nichtauftritte Renzi wirklich helfen, ist mehr als fraglich. Die Lega- und Grillo-Partisanen werdens nicht honorieren. Keine Frage ist hingegen, dass sie dem Ansehen des europäischen Gemeinschaftsprojekts nicht guttun. Noch vor wenigen Wochen, genauer am 22. August 2016, liess sich Renzi sehr gerne mit dem Duo Merkel/Hollande ablichten, als sie gemeinsam auf der ehemaligen Gefangeneninsel Ventotene vor Neapel an einen der historischen Ausgangspunkte des Gemeinschaftsprojekts erinnerten:

Antifaschisten, unter ihnen der berühmte Altiero Spinelli, nach dem ein 1984 leider nicht weiterverfolgter Verfassungsentwurf benannt ist, lebten als Gefangene des Mussolini-Regimes 1941–1944 auf dieser Insel und verfassten das wegleitende Manifest «Für ein freies und geeintes Europa». Diese Erklärung sollte mehr wert sein als ein Fototermin.

Für die schlechte Erledigung von Hausaufgaben macht man gerne die europäische Dachorganisation verantwortlich.

Renzis billiger Schwenker entspricht der allgemein bestehenden Tendenz, Innenpolitik auf Kosten der Europapolitik zu betreiben. Für die schlechte Erledigung von Hausaufgaben macht man gerne die europäische Dachorganisation verantwortlich. Doch demonstrative Distanz zur EU hilft meistens nicht. Der häusliche Furor ist nämlich weniger die Konsequenz aus Ungenügen auf der oberen Etage, er entspringt vielmehr einem diffusen Missmut, der einfach eine Adresse sucht – und mit «Europa» leicht findet.

Europa oder, wenn man lieber will, die EU hat die Funktion eines Sündenbocks. Das heisst: Dem Opfer werden Dinge vorgeworfen, für die es selber nichts kann und für welche die Vorwerfenden, die sich damit selbst entlasten wollen, verantwortlich sind. In der allgemeinen Vorwurfsadresse gibt es im Fall Renzis noch eine spezielle: Deutschland und seine Kanzlerin. Sie werden für die Wirtschaftsschwäche im eigenen Land verantwortlich gemacht.

Inzwischen erscheint es beinahe zur Bürgerpflicht zu gehören, empört zu sein.

Die gegenüber der EU beinahe automatisch negative Einstellung generiert höchst widersprüchliche Kommentare: Die einen sehen im Gipfeltreffen von Bratislava nur Gefeilsche und Kakofonie, andere attestieren dem gleichen Treffen Scheinheiligkeit und trügerische Eintracht. Da ist der von Renzi festgestellte «passo in avanti» geradezu ein generöses Urteil.

Vor über fünf Jahren hatte uns der alte und vom Leben erprobte Stéphane Hessel mit enormer Resonanz zugerufen: «Empört euch!» Das war glaubwürdig und orientierte sich an den Menschenrechten. Die Schrift richtete sich gegen die Gleichgültigkeit der «Ohne-mich-Typen». Die heute grassierende Empörungsmanie würde der 2013 mit 96 Jahren verstorbene Hessel aber nicht unterstützen.

Inzwischen scheint es beinahe zur Bürgerpflicht zu gehören, empört zu sein. Bevor wir aber als Wutbürger reagieren oder meinen, Verständnis für Wutbürger aufbringen zu müssen, sollten wir uns überlegen, was es mit diesem Wutbürgertum auf sich hat. Einerseits hat es dieses Phänomen wohl schon immer gegeben – die Geschichte ist voll von kleineren und grösseren Protesten. Und die meisten Proteste sind nicht einfach unbegründet. Es fragt sich allerdings, ob sie von einer richtigen Ursachenanalyse ausgehen, sich an die richtige Adresse richten und die richtigen Mittel einsetzen.

Störenfriede hausen heute als breite Gruppe auch in der Mitte der Gesellschaft.

Der in St. Gallen lehrende Philosophieprofessor Dieter Thomä wird in den kommenden Tagen ein Buch über gesellschaftliche Störenfriede veröffentlichen. Mit dieser Publikation reagiert er auf ein in unserer Zeit stets grössere Bedeutung erlangendes Phänomen. In einem vorab in der NZZ publizierten Artikel hat er eine Klassifikation der verschiedenen Störenfriede-Typen vorgestellt. Abgesehen vom einleuchtenden Grundstatement, dass «ein bisschen Rebellion» dann und wann für die Gesellschaft ganz gut sei, muss uns eine andere seiner Aussagen wichtig sein:

Es gebe eine Kategorie von Störenfrieden, die vom Egotrip die Nase voll hätten und sich darum totalitären oder auch nur populistischen Bewegungen an den Hals werfen würden. Egohaltungen und Massenbetrieb schliessen sich gegenseitig jedoch nicht aus. Man kann auch aus Egobedürfnissen Teil einer Massenbewegung werden.

Zudem geht Thomä zu selbstverständlich davon aus, dass die Störenfriede an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt seien. Inzwischen hausen sie nämlich auch als breite Gruppe (dann und wann sogar in Mainstream-Format) in der Mitte der Gesellschaft.

Der Ausbau der EU-Integration erweiterte auch die Angriffsflächen.

Empörungsbewegungen sind vor Jahren auf dem linken Flügel aufgekommen. Man erinnert sich vielleicht an die Seattle-People von 1999 oder an das Occupy Wall Street Movement, das 2011 mit einem kleinen Ableger sogar auf dem Zürcher Lindenhof gegen die dunklen Seiten der Globalisierung protestierte. Inzwischen hat der Protest gegen «das System» den wesentlich breiteren rechten Flügel des Gesellschaftsspektrums erreicht. Dieser campiert aber nicht in Kunststoff-Iglus, sondern nutzt die jeweils nächsten Wahl- und/oder Abstimmungsgelegenheiten.

Das europäische Gemeinschaftsprojekt ist vom gewachsenen Protestbedürfnis nicht unberührt geblieben. Nachdem die Einstellung der Basisbürger gegenüber der EG/EU während Jahrzehnten teils wohlwollend, teils schlicht desinteressiert war, sind die Zustimmungswerte im Laufe der 1990er-Jahre rapide zurückgegangen. Die Hauptursache dafür ist nur insofern in der EU zu suchen, als sie es nicht fertigbrachte, die negativen Effekte der Globalisierung erfolgreich zu bekämpfen.

Hinzu kam, dass der weitere Ausbau der Integration auch die Angriffsflächen erweiterte. Sicher gab und gibt es auch objektive Gründe, dies und jenes zu kritisieren. Die gegenwärtige Ablehnung ist aber weniger die Konsequenz begründeter Detailkritik als des Bedürfnisses, fundamentale Ablehnung an den Tag legen zu können. Es ist erstaunlich und beängstigend, in welch starkem Ausmass wichtige Entscheide von Stimmberechtigten geprägt werden, die gerne ihre negative Stimmungen manifestieren.

Gehässig wird den eigenen Regierungen vorgeworfen, sie würden das eigene Land zu wenig gegen Europa schützen.

Eine Zeit lang richtete sich solche Kritik gegen die EU («Brüssel»). Doch nun dehnt sie sich auf die nationalen Regierungen aus. Das könnte auch Renzi treffen. Mit bemerkenswerter Gehässigkeit wird den eigenen Regierungen vorgeworfen, sie würden das eigene Land zu wenig gegen die Welt, insbesondere nicht gegen Europa schützen. Darin gefallen sich auch unsere schweizerischen Rechtsnationalen, die der eigenen Regierung in den aktuellen Verhandlungen rund um die Personenfreizügigkeit vorschnell Versagen, ja Verrat vorwerfen.

Vergangenen Montag haben sich in Zürich im Rahmen der Feier zu Churchills Europarede von 1946 der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Bundespräsident Johann Schneider-Ammann getroffen. Von den Medien angeheizt, sah man diesem Treffen mit viel zu hohen Erwartungen entgegen.

Dass der Bundespräsident (so gut es ihm möglich ist) zwar Reden halten kann, aber eigentlich nichts zu sagen hat, wissen wir. Und Juncker? Auch er hat nur ganz wenig zu sagen. Er wird zwar als Kopf eines mächtigen Monsters hingestellt, ist aber in vielem und in allen finalen Entscheiden völlig von den Haltungen der EU-Mitglieder abhängig.

Hier sind wir wieder beim Ausgangspunkt: Die EU kann nicht besser sein, als ihre Mitglieder dies möglich machen. Empörung gegen die EU sollte sich – in konstruktiver Weise – vor allem gegen die eigenen Regierungen richten.

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