Das Urteil über die Winterspiele im russischen Sotschi war schon vor deren Austragung gefällt. Wer nur die gruselige, berechnende Inszenierung, die Putin’sche Machtdemonstration sehen wollte, konnte das auch während den Spielen. Gerecht wird es Sotschi 2014 nicht.
Am winterlichsten war es in Sotschi mitten im Olympiapark, gleich hinter der Eislaufhalle. Dort flimmerten Bilder von Schnee und Eis über eine Videoleinwand in einem kleinen Holzhaus mit blau-weissen Türmen, in dem der Weihnachtsmann wohnte. Der Weihnachtsmann hatte einen silbernen Thron in Form einer Schneeflocke, aber manchmal war er auch unterwegs vor der Tür seines Hauses und hopste zu einer Art Balalaika-Techno über den Platz, dann durften die Besucher sich auf den Thron setzen und dabei fotografieren lassen. Draussen waren es 20 Grad.
Skurril und künstlich: So fühlten sich die Winterspiele von Sotschi oft an. Aber das heisst noch nicht viel. Das kann man so oder so finden. Das Haus des Weihnachtsmannes führt insofern noch zu einer anderen Geschichte, der von Olympia 2014, das gestern um halb elf Uhr Ortszeit mit einer kultivierten Schlussfeier beendet wurde.
Nur gruselig – oder auch toll?
Selten haben Olympische Spiele die Besucher mit so widersprüchlichen Eindrücken hinterlassen, die Meinungen so gespalten. London 2012 war einfach: Das fanden alle toll. Peking 2008 auch: Das fanden alle irgendwie gruselig. Sotschi war auch oft gruselig. Durfte es allein deshalb manchmal nicht auch toll sein?
Freitag in der Eishockey-Halle, zwei Tage vor Ende der Spiele. Eigentlich müsste hier jetzt miese Stimmung herrschen. Russland ist vor zwei Tagen aus dem Turnier ausgeschieden, in den Medien war von nationaler Schande die Rede. Statt den Gastgebern spielen jetzt andere das Halbfinale aus. Böse Blicke, unfreundliche Wachleute, bestenfalls Indifferenz: so in etwa stellte man sich das vor.
Ungerechte Berichterstattung
Die Stimmung ist: zauberhaft. Russische Volunteers singen amerikanische Popsongs, eine animiert per Schild jeden Passanten zum «High Five», nicht aufdringlich, eher ein bisschen schüchtern, mit einer fast altmodischen Klasse. Die Volunteers hatten viel Klasse, das kam oft etwas zu kurz. Den Menschen Russlands wurde die internationale Berichterstattung nicht immer gerecht.
Insbesondere amerikanische Sportler haben es oft gesagt, Touristen auch: Nach den Medienberichten hätten sie sich auf einen wahren Horrortrip eingestellt. Allein deshalb seien sie positiv überrascht gewesen. Solche Spiele sind schon auch die Chance, eigene Klischees zu hinterfragen, sich auf eine andere Kultur einzulassen. Die Chance vergibt, wer alles entlang der Konformität mit der eigenen Lebensweise bewertet.
Ist denn Gegröle besser?
Im Olympiapark sei nichts los, war manchmal in der Schweiz und anderswo zu lesen. Aber beginnt Stimmung erst, wenn man sich gegenseitig auf den Füssen steht, die Alkoholfahne des Nachbarn riecht und aus mindestens zehntausenden Kehlen im Akkord gegrölt wird? Geht es nicht auch mal ein bisschen leiser?
Neben dem olympischen Feuer, zwischen den kreisförmig angeordneten Hallen, standen während der Spiele die fünf olympischen Ringe. Zehn- , vielleicht hunderttausende Menschen haben sich vor, auf und neben diese Ringe gestellt und sich von ihren Freunden fotografieren lassen. Sie sahen glücklich aus.
Gute Spiele im guten Kanada
Vancouver 2010 gelten als gute Spiele, denn sie fanden im guten Kanada statt; daran ist zum Beispiel richtig, dass der Aufwand sich in einem vernünftigen Rahmen hielt und möglichst wenige «Weisse Elefanten» geschaffen wurden: Bauwerke, bei denen man sich eine Nachnutzung nur mit viel Phantasie vorstellen kann.
Aber Vancouver waren auch Spiele, die von den Politikern des Landes zur patriotischen Bürgerpflicht überhöht wurden und die dann tatsächlich eine sehr nationalistische Färbung hatten. Irgendwann war es unmöglich, im Fernsehen einfach einen olympischen Sportwettbewerb zu sehen. Denn das Fernsehen zeigte nur noch die Kanadier.
Es war in London, dass man sich teilweise wie im Krieg vorkam, weil uniformierte Soldaten die Einlasskontrollen vornahmen. Nicht in Sotschi.
Machtdemonstrationen
Solche Differenzierungen beschönigen nichts, weder den Gigantismus der 40 Milliarden Euro teuren Unternehmung noch die politische Verfolgung von Kritikern noch die traurige Rolle des IOC. Dass Russlands Staatsapparat die Chuzpe besass, während der Spiele den Umweltaktivisten Jewgeni Witischko zu Lagerhaft zu verurteilen, war eine brutale Ansage. Vor den Augen der Welt, wegen deren Kritik oder gerade deshalb. Nicht zuletzt sagte es den Russen: Wir sind die Macht, wir scheren uns nicht um andere.
Es zeigte gleichzeitig, wohin die devote Attitüde des IOC führt: zu moralischer Irrelevanz. Die ersten Spiele unter Neu-Präsident Thomas Bach unterschritten in diesem Punkt noch die sowieso schon geringen Hoffnungen. Wie IOC-Sprecher Mark Adams die Verhaftung des Spielekritikers Witischko penetrant als «nicht spielebezogen» bezeichnete, gehört zu den Tiefpunkten olympischer Beschwichtigungsrhetorik. «Völlig inakzeptabel»: Das sagte Adams zu einem eventuellen Protest der regimekritischen Band Pussy Riot im Olympiapark. Annähernd so starke Worte über Menschenrechtsverletzungen in Russland sind vom IOC nicht überliefert.
Isoliert im Raumschiff
Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn die Funktionäre auch mal mit Menschen ausserhalb ihres Raumschiffs sprechen würden. In Sotschi wäre das möglich gewesen, es war nicht Peking, wo der Vorhang kaum zu lüften war, wo man nicht hinter die Inszenierung kam, wo von der Regierung ein Antwortenkatalog für Gespräche mit Ausländern erlassen wurde. In Sotschi hätten die Olympier nicht mal ihren Park verlassen müssen.
Spätabends in der zweiten Woche, es regnet in Strömen. Trotzdem bildet sich vor dem Olympiashop immer noch eine kleine Schlange. Die Russen sind ganz verrückt nach den schrillen Teamklamotten der Marke Bosco, tagsüber stehen sie hier drei Stunden und länger an. Wenn sie sich es leisten können. Eine Jacke kostet 500 Dollar, sagt Volunteer Anastasia, die den Eingang kontrolliert. Fast der Monatslohn eines Arbeiters.
Witze über Putin
Wie das geht? «In Russland gibt es viele reiche Leute.» Alles rund um Olympia hat westliches Preisniveau, eine Oberschichtenveranstaltung, das ist kaum zu übersehen. Während die Oligarchen durch Bau und Korruption an den Wettkampfstätten ihren üblichen Tribut abzweigten, sind viele Arbeiter immer noch unbezahlt. Dabei haben sie auch während der Spiele teils noch 24 Stunden geschuftet, wie Alexej erzählt. Er ist IT-Techniker in einem der neuen Hotels. «Wir schaffen es gerade so, dass es für die Gäste gut aussieht», sagt er. «Ansonsten bekommen wir von Olympia nichts mit.»
Die Menschen sind nicht vollkommen frei in Russland, weil sie Willkür ausgesetzt sind. Aber man hatte zumindest das Gefühl, mit jedem über alles reden zu können. Putin? «Wir machen vor allem Witze über Putin», sagt Alexej.
Wie auch nicht, angesichts solcher Aktionen wie mit den Pussy Riot. «Idiotisch» nannte nicht nur der Oppositionelle Alexej Nawalny die Festnahme der Musikerinnen während Olympia in Sotschi. Zumal diese noch aus dem Polizeiwagen, der sie abtransportierte, in alle Welt twitterten. Aber wer das nur für schlechtes Theater hält, unterschätzt wohl die Mechanismen der Unterdrückung. Später wurden Pussy Riot von Kosaken verprügelt. Harakiri und Gewalt: der Staat kann sich hier eine Menge erlauben.
Ausspannen am Strand
Fremdes Russland, mysteriöses Russland. Schräges Russland. Ist es Selbstironie, wenn in der Eishockeyhalle in der Drittelpause der 1980er-Jahre-Hit «Vamos a la playa» gespielt wird? Der Strand ist ja wirklich direkt daneben, und an vielen Tagen war es bei diesen Winterspielen so warm, dass die Leute sich am Schwarzen Meer einen Sonnenbrand holten. Das Wetter, auch so ein Thema. In Vancouver hatte es 2010 tagelang durchgeregnet. Die ehemalige Kandidatenstadt München erlebte einen frühlingshaften Februar. Wäre man dort auch so über die Veranstalter hergezogen wie in Sotschi?
Am Ende hat dieses Russland den Medaillenspiegel gewonnen, aber in seinem Nationalsport Eishockey versagt. Es hat ein historisches Gold geholt, das erste jemals im Frauen-Eiskunstlauf, aber das wurde begleitetet von harter Kritik an der Jury. Putins Lieblingssportler Jewgeni Pljuschtschenko triumphierte noch mal, aber nur im neuen Teamwettbewerb; sein spontaner oder spontan inszenierter Rückzug vor dem Kurzprogramm sorgte für viel Spott. Und die wohl beste Stimmung bei diesem Olympia gab es bei einem Spiel zwischen Kanada und den USA.
Im Frauen-Eishockey wohl gemerkt. Das ist der Sport, den das IOC immer mal wieder aus dem Programm streichen will. Aber im Bolschoi-Dome ist es nicht mal bei Toren der russischen Männer so laut gewesen wie an dem Abend, als die Kanadierinnen in den letzten Minuten das Finale gegen die USA ausgleichen und schliesslich gewinnen. Niemand kann sich diesem Match entziehen, das lebt von der unverstellten Leidenschaft der Spielerinnen, die hier teils wirklich noch Amateure sind – ein olympischer Moment der alten Schule, mitten bei den Megaspielen von Sotschi.
Wiedersehen in vier Jahren
Was bleibt also? Hat Olympia die Menschen geöffnet? Das Regime gestärkt? Den Blick auf Probleme geschärft? Fortschritt geschaffen? Ressourcen zerstört? Manches bestimmt, wahrscheinlich alles. Und vielleicht hat die Welt gar keinen so schlechten Eindruck von Russland bekommen, mit all den Widersprüchen.
Im Haus des Weihnachtsmannes hingen an der Wand kleine Post-its, die Menschen konnten ihre Wünsche darauf schreiben. «Viel Glück den Athleten», stand dann da zum Beispiel. Oder, auf einem anderen: «Gold 2018». Dann, in vier Jahren, findet eine Fussball-Weltmeisterschaft in Russland statt. Weniger widersprüchlich wird diese nicht.