Tage der Unfreiheit: Wer gegen den Staat protestiert, muss hart im Nehmen sein

Der Autokrat Alexander Lukaschenko erlebt mit den aktuellen Sozialprotesten seine grösste innenpolitische Krise. Stand der Präsident den Protesten anfangs noch ratlos gegenüber, ist er inzwischen wieder zur Sprache der Repressionen zurückgekehrt.

Tausende protestierten in Minsk gegen die geplante «Sozialschmarotzer-Steuer».

(Bild: Maxim Sarychau)

Der Autokrat Alexander Lukaschenko erlebt mit den aktuellen Sozialprotesten seine grösste innenpolitische Krise. Stand der Präsident den Protesten anfangs noch ratlos gegenüber, ist er inzwischen wieder zur Sprache der Repressionen zurückgekehrt.

Sofia ist wütend. «Das Blaue vom Himmel» hätte Präsident Lukaschenko, der das Land seit 1994 mit harter Hand regiert, versprochen. Und jetzt? «Es gibt keine Arbeit, es gibt kein Geld», schimpft die 78-jährige Rentnerin. «Lukaschenko hat uns betrogen.» 

Sofia ist so wütend, dass sie selbst am 25. März ins Zentrum von Minsk gekommen ist, am «Freiheitstag», an dem die Opposition traditionell der Gründung der Weissrussischen Volksrepublik 1918 gedenkt. Wie Vieh treiben die Polizisten Demonstranten, aber auch Passanten in die Gefangenentransporter. Doch Sofia hat keine Angst mehr. «Lukaschenko soll hierher kommen und sich anhören, was ihm das Volk zu sagen hat, anstatt uns die Bullen auf den Hals zu hetzen!» 

Tausende Weissrussen sind in den vergangenen Wochen gegen die sogenannte «Sozialschmarotzer-Steuer» auf die Strasse gegangen. Eine Steuer von umgerechnet 180 Euro, die jene zahlen sollen, die offiziell weniger als sechs Monate im Jahr eine Arbeit haben. Das ist viel in einem Land mit einem Durchschnittsgehalt von 350 Euro.

Entführung durch den KGB

Zu Beginn liess Lukaschenko die Demonstranten gewähren und hat auf den Druck der Strasse hin die Steuer sogar ausgesetzt. Doch die Proteste sind weitergegangen und wurden zunehmend politisch. Immer direkter wenden sie sich gegen den Präsidenten selbst. Von einem «Frühling von Belarus», wie Weissrussland in der Landessprache heisst, sprechen die oppositionellen Medien, von der grössten innenpolitischen Krise Lukaschenkos die regimetreuen. 

Doch jetzt greift Lukaschenko wieder hart durch. Im Staatsfernsehen wird versucht, die Proteste, die immer friedlich waren, als «nazi-ähnlich» abzutun, während der einzige unabhängige Sender Belsat mit Razzien und Festnahmen schikaniert wird. Zuletzt wurden 26 Männer inhaftiert, denen das Regime vorwirft, gewaltsame Provokationen vorbereitet zu haben.

Der Oppositionelle Mikalaj Statkewitsch, der die Proteste in Minsk anführen sollte, wurde kurzerhand vom KGB, wie der Geheimdienst hier immer noch heisst, entführt. Allein 700 Menschen wurden am «Freiheitstag» in Minsk festgenommen. «Tag der Unfreiheit», nennen ihn seither einige.

Wer in Weissrussland Oppositionspolitik betreibt, muss hart im Nehmen sein. 

Rund 200 Menschen wurden bereits vor den geplanten Protesten in Minsk festgenommen, um der Bewegung schon vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen. Unter ihnen Anatol Ljabedska. Ein verwackeltes Video zeigt, wie er Mitte März in einer Kleinstadt von Unbekannten in einen Kleinbus gezerrt wird. Das Video hat Ljabedska selbst gedreht und auf Youtube hochgeladen. Heute sitzt er im 17. Stock eines Minsker Plattenbaus, der Zentrale der «Vereinigten Bürgerpartei». Erst gestern ist er aus der Haft entlassen worden. Sein linkes Auge tränt und ist entzündet. Er winkt ab. «Schlechte Hygiene im Gefängnis.» 

Kaum freigelassen, droht das nächste Verfahren

Wer in Weissrussland Oppositionspolitik betreibt, muss hart im Nehmen sein. Über seine Inhaftierung vor sechs Jahren hat Ljabedzka ein Buch geschrieben: «108 Tage und Nächte in einem KGB-Kerker». Vor wenigen Tagen wurde er  wegen der «Organisation einer nicht genehmigten Protestveranstaltung» in einer Provinzstadt zu 15 Tagen Haft verurteilt. «Es war das Ziel, die Proteste führungslos zu machen», ist Ljabedzka überzeugt. Just am Abend des «Freiheitstages» war seine Haftstrafe abgelaufen, doch schon droht ihm ein neues Gerichtsverfahren. Ljabedska deutet mit der Hand über die Porträts der führenden Parteimitglieder, die an der Wand hängen: hinter Gittern, vermisst, festgenommen.

Pensionisten und Arbeiter in den Kleinstädten sind als erste auf die Strasse gegangen. 

Dabei war es gar nicht die Opposition, die die neuen Proteste angezettelt hatte. Vor allem die Pensionisten und Arbeiter in den provinziellen Kleinstädten gingen auf die Strasse: für ein Ende der Steuer, für bessere Lebensqualität und für einen neuen Wirtschaftskurs. Damit haben sie alle überrascht, auch die Opposition. Doch schnell sind die Politiker – freilich nicht zur Freude aller –  auf den Zug aufgesprungen. Und zur Zielscheibe des Regimes geworden. 

Es sind die schlimmsten Repressionen seit knapp sieben Jahren, als am 19. Dezember 2010, dem Abend der Präsidentschaftswahlen, eine Minsker Protestaktion gegen Wahlfälschung brutal niedergeschlagen wurde. Aber anders als damals, als Politiker und Aktivisten zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden, sind die Aktivisten heute mit relativ geringen Strafen davongekommen.

Insgesamt 900 Menschen wurden in den vergangenen Wochen festgenommen, doch die meisten von ihnen nach kurzer Zeit wieder freigelassen. 177 von ihnen wurde in absurden Verfahren der Prozess gemacht. Insgesamt 74 Aktivisten, Journalisten und Politiker wurden zu mehrtägigen Haftstrafen verurteilt.

Lukaschenko sucht Nähe zur EU

Es mag zynisch klingen, aber die Repressionen hätten noch viel schlimmer sein können. «Das weissrussische Regime experimentiert damit, die Gewalt zu dosieren, und hofft dabei, seine Beziehungen zum Westen nicht aufs Spiel zu setzen», schreibt der Politologe Alexander Klaskouski. Erst vor einem Jahr hat Brüssel die Sanktionen gegen Lukaschenko, der lange Zeit als der «letzte Diktator Europas» galt, aufgehoben.

Der Bedingung – die Freilassung aller politischen Gefangenen – ist Lukaschenko zunächst auch nachgekommen. Vor allem seit der russischen Aggression in der Ukraine ist sowohl Minsk als auch Brüssel daran gelegen, die gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren. Seit 2015 hat das Land eine relativ liberale Phase erlebt. Möglich, dass dieses kurze Fenster der relativen Freiheit den «Frühling von Belarus» erst ermöglicht hat.

Von erneuten Sanktionen, wie sie nach dem harten Durchgreifen 2010 ergriffen wurden, ist derweil in Brüssel keine Rede. «Wir werden unsere Kontakte mit den weissrussischen Behörden aufrecht erhalten und möchten unterstreichen, dass es notwendig ist, die Menschenrechte, die Grundrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit zu achten», sagt eine Sprecherin der EU-Aussenbeauftragten gegenüber der TagesWoche. Die weissrussischen Behörden waren auf mehrfache Anfrage zu keiner Stellungnahme bereit.

Knatsch mit Russland

Seitens der Wirtschaft kann Lukaschenko nicht mehr auf viel Unterstützung hoffen. Erstmals seit Mitte der Neunzigerjahre steckt die stark planwirtschaftlich organisierte Wirtschaft des Landes in einer Rezession. Seine Loyalität zu Moskau liess sich Lukaschenko zuletzt mit Subventionen von 15 bis 20 Prozent des BIP vergolden, meist in Form billiger Öl- und Gaslieferungen. Doch der wichtigste Verbündete steckt selbst in der Krise: Die Exporte nach Russland stagnieren, Fabrikarbeiter mussten zuletzt entlassen werden. Noch dazu hat sich Lukaschenko mit Putin über Fragen zu Grenzkontrollen und Gaspreisen verkracht. Dieser Tage soll es zwischen Lukaschenko und Putin zumindest bei den Energiepreisen zu einer Einigung gekommen sein.

So ist es unklar, ob Lukaschenkos Strategie einer «Gratwanderung zwischen dem Druck von innen und dem Druck von aussen», wie es Andrew Wilson vom University College in London bezeichnet, aufgeht. Nach den letzten Repressionen 2010 war die Zivilgesellschaft auf Jahre hin gelähmt.

Diesmal dauerte es nur wenige Stunden, bis sich einige – wenngleich wenige – Demonstranten in einer Solidaritätsaktion für die Festgenommenen in Minsk versammelt haben. Umgehend wurden auch sie von der Polizei festgenommen. Derweil wird schon wieder über einen Termin für die nächste Aktion diskutiert. «Der Raum der Angst ist kleiner geworden», glaubt Ljabedska. «Die Leute sind verzweifelt genug, um trotzdem nach Veränderung zu verlangen», sagt Maryna Rakhlei vom German Marshall Fund.

In den sozialen Medien wird diskutiert, wie man sich am besten vor dem KGB schützen und seine eigene Festnahme streamen kann.

Im Internet sprechen sich die Aktivisten derweil gegenseitig Mut zu. In den sozialen Medien wird diskutiert, wie man sich am besten vor dem KGB schützen kann, wie man für eine Protestdemo seinen Rucksack packt oder ob man in den Hungerstreik treten soll. Ein Jugendmagazin publiziert laufend Updates, wie man sich gegenüber der Polizei verhalten soll. «Radio Free Europe» gibt Instruktionen, wie man seine eigene Festnahme streamen kann. 

Das hat auch Petr Makelow gemacht. Der junge Mann mit dem dunkelbraunen Zopf hat gefilmt, wie eine Gruppe Anarchisten von Männern ohne Hoheitsabzeichen abgeführt wurde. Dafür wurde auch er zu einer 12-tägigen Haftstrafe verurteilt. «Auch das wird uns nicht stoppen. Sogar die Mitarbeiter im Gefängnis sind der Meinung, dass wir für nichts und wieder nichts eingesperrt wurden», so Makelow zum Online-Portal naviny.by. «Die Leute werden weiter auf die Strasse gehen, weil sich nichts verändert hat.»

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